Versetzte Verse in der Kritik: Hamann, Herder und die Genieästhetik


Inhaltsverzeichnis

1. Herder und Hamann über Turbatverse

2. Johann Gottfried Herder: Gegen Pedanten und elende Schulrhetoren

3. Johann Georg Hamann: Die Aufgabe des Poeten

4. Schüler und Genie: Ein problematischer Gegensatz

Verwendete Literatur

Herder und Hamann über Turbatverse

Im 18. Jahrhundert gerät der Lateinunterricht unter Druck, die deutsche Sprache rückt stärker ins Zentrum. Trotzdem bleiben die klassischen Texte der Antike ein wichtiger Bezugspunkt der Textproduktion und gelten weiterhin als Ausweis für Bildung und Gelehrsamkeit. Die Abwertung des Lateinischen als Unterrichtsgegenstand geht daher mit einer Überhöhung im Kontext der Dichtungstheorie einher.

Ohne die über das Lateinische vermittelten Regeln der Rhetorik und Poetik kommt auch der Deutschunterricht nicht aus. In der Unterrichtswirklichkeit mag Latein also eine geringere Rolle spielen. Die Verfahren und Begriffe, die durch das Fach vermittelt werden, kommen noch immer zum Einsatz, selbst wenn es jetzt um das Produzieren deutscher Texte geht. Mehr noch: Sie nehmen sogar an Bedeutung zu, um die Aufgaben des Dichters zu klären.

Dies lässt sich insbesondere an Johann Gottfried Herder und Johann Georg Hamann zeigen, die in den Jahre 1762 – 1764 eine gemeinsame Zeit in Königsberg verbringen und zentrale Texte der Genieästhetik verfassen. Hamann, gebürtiger Königsberger, lebt seit 1759 wieder in seiner Heimatstadt und veröffentlicht dort 1760 erstmals seine Aesthetica in nuce, die 1762 erneut in der Sammlung „Kreuzzüge eines Philologen“ erscheinen. Als Herder 1762 nach Königsberg kommt, dort als Hilfslehrer arbeitet und an der Universität und in lokalen Gelehrtenkreis Kontakte knüpft, freundete er sich mit Hamann an. Herder wechselt 1764 an die Domschule in Riga und beginnt von dort aus 1769 eine mehrjährige Reise durch europäische Städte. Über die erste Etappe dieser Reise, von Riga nach Nantes, berichtet er in seinem „Journal meiner Reise im Jahre 1769“, das erst 1846 vollständig veröffentlicht wird. Der darin enthaltene Entwurf eines reformpädagogischen Programms, das „Ideal einer Schule“, erscheint allerdings bereits 1810 in einer Werkausgabe als Anhang der „Gesammelten Schulreden“.

Herder und Hamann gehen beide an zentraler Stelle ihrer Texte auf das Ordnen versetzter Verse ein, das sie als Ordnen von „Turbatversen“ bezeichnen. Es bekommt dabei eine paradoxe Doppelfunktion zugesprochen, die aus der Genieästhetik, der sie anhängen, fast zwangsläufig folgt.

Herder will das Ordnen versetzter Verse in seinem „Ideal einer Schule“ vollständig aus dem Unterricht verbannen. Durch die deutsche Sprache allein sei der Zugriff auf die Sachen und Dinge der Natur zu erreichen, Schüler bräuchten kein Training im lateinischen Stil. Ganz im Sinne der Genieästhetik kann und muss jeder selbst sich aus eigener Kraft und durch eigene Anschauung die Welt aneignen.

Damit würden die versetzten Verse zwar aus der Unterrichtswirklichkeit verschwinden. Umso bedeutsamer wird das Verfahren für die Genieästhetik aber als Modell für die Aufgabe, vor der der Dichter in einer Welt steht, die den selbsttätigen Menschen in den Mittelpunkt stellt.

Denn Hamann deutet das Ordnen versetzter Verse, das Herder für pädagogisch funktionslos erklärt, in seiner Aesthetica in nuce zu einem dichtungstheoretischen Programm um. Wie der Schüler, der einzelne Versbausteine in eine inhaltliche und metrisch korrekte Anordnung bringen muss, stehe der Dichter vor der Aufgabe, die Sachen und Dinge, die er in der Welt vorfindet, in seinen Texten in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen. Dies trage jedoch den Charakter eines Experiments und komme letztlich nicht über das Versuchsstadium heraus. Der Dichter liest in der Natur wie in einem Buch, das Gott geschrieben hat. Was Gott sich dabei gedacht hat, lässt sich nie mit Sicherheit klären. Es trotzdem so gut wie möglich herauszufinden ist Aufgabe des Genies.

Johann Gottfried Herder: Gegen Pedanten und elende Schulrhetoren

In seinem „Journal meiner Reise im Jahre 1769“ notiert Johann Gottfried Herder, wie er sich die ideale Schule vorstellt.

Bei völligem Verzicht auf das Lateinische soll Unterricht in drei Schwerpunktfächer stattfinden, die er Klassen nennt und in denen die Schüler je nach Alter auf verschiedenen Niveaustufen arbeiten. Bei den Fächern handelt es sich um „Natur“, „Geschichte“ und „Abstraktion“. In der Klasse 1 (Natur) geht es um die naturwissenschaftlichen Fächer und die Mathematik, in der Klasse 2 (Geschichte) um Erdkunde und Ethnologie aller Regionen und Völker, in Klasse 3 (Abstraktion) um das religiöse Empfinden und seine philosophische Begründung.

Sprachübungen finden nicht in einem eigenständigen zusätzlichen Fach statt, sondern Sprache wird in der Beschäftigung mit den Unterrichtsgegenständen direkt angewendet. Durch den Gebrauch der Muttersprache erlernt der Schüler wie von selbst die Regeln, nach denen sie funktioniert, sie müssen nicht umständlich thematisiert werden.

So lernt man Grammatik aus der Sprache; nicht Sprache aus der Grammatik. So lernt man Styl aus dem Sprechen; nicht Sprechen aus dem künstlichen Styl. So lernt man die Sprache der Leidenschaft aus der Natur; nicht diese aus der Kunst.

Johann Gottfried Herder, Ideal einer Schule (1769)

Auch Schreibübungen beschränken sich in Herders idealer Schule darauf, dass die Schüler die Ergebnisse ihrer unterrichtlichen Arbeit zusammenstellen, also ihre Beschäftigung mit „Natur“, „Geschichte“ und „Philosophie“ schriftlich dokumentieren.

Mit dieser Forderung grenzt sich Herder scharf gegen die die Aufgabentypen des humanistischen Gymnasiums ab, die dem Sprachtraining und vor allem der Einübung des Stils dienen. Herder zählt sie der Reihe nach auf, um sie zu verwerfen: Briefe, Reden, Besinnungsaufsätze ausgehend von einer Spruchweisheit (Chrie), möglichst kunstvoll gebaute Satzgefüge (Perioden) und schließlich die Komposition lateinischer Dichtung, das Versemachen ausgehend von „Turbatversen“. Bei all diesen Aufgaben handelt es sich für Herder um gespreizte Schulübungen ohne Bezug zur Wirklichkeit, die dem Schüler den freien Blick auf die Welt um sich herum verstellen und sein naturgegebenes, freies Ausdrucksvermögen hemmen.

Laß den Schüler die Erfahrungen und Versuche, die er sieht, in aller Wahrheit aufschreiben: die Bilder der Historie und Geographie in allem ihrem Lichte aufschreiben: die Einleitung in die Geschichte der Religion und Menschheit in aller Stärke aufschreiben: und er hat alle Uebungen der Schreibart, weil er alle der Denkart hat.

Er lernt zwar freilich damit nicht sachenlose ekle Briefe, Chrien, Perioden, Reden und Turbatverse machen, die bei aller Ordnung noch Turbatverse, bei allen Materialien Schulchrien, bei aller Kunst der Wendung linke Perioden, bei allem Geschrei kalte Reden bleiben; aber er lernt was Bessers: Reichthum und Genauigkeit im Vortrage der Wahrheit: Lebhaftigkeit und Evidenz, in Bildern, Geschichten und Gemälden: Stärke und unaufgedunstete Empfindung in Situationen der Menschheit.

Jene erste Methode verdirbt in Briefen, Reden, Perioden, Chrien und Versen auf ewig: sie verdirbt Denk- und Schreibart: giebt nichts, und nimmt vieles, Wahrheit, Lebhaftigkeit, Stärke, kurz Natur: setzt in keine gute, sondern in hundert üble Lagen, auf Lebenszeit, macht sachenlose Pedanten, gekräuselte Periodisten, elende Schulrhetoren, alberne Briefsteller, von denen Deutschland voll ist, ist Gift auf Lebenszeit.

Die meinige lehrt alles, indem sie nichts zu lehren scheint: sie ist die bildendste Klasse des Styls, indem sie nichts als ein Register andrer Klassen ist, so wie auch wirklich die Worte nur Register der Gedanken sind. Sie gewöhnt also dazu, nie Eins vom andern zu trennen, noch weniger sich auf Eins ohne das andre was einzubilden, und am wenigsten, das Eine gegen das andre zu verachten.

Johann Gottfried Herder, Ideal einer Schule (1769)

Trotz aller Kritik an den rhetorischen und poetischen Übungen des Lateinunterrichts verwendet Herder weiterhin antike rhetorische Begriffe, um sein Programm zu erläutern. Er nimmt allerdings für sich in Anspruch, einen neuen Weg gefunden zu haben, um mit der traditionellen Unterscheidung zwischen Worten und Sachen umzugehen.

Den Aufgabentypen des humanistischen Gymnasiums fehlt, so Herder, der Bezug zu den Sachen, sie kommen nicht über Wortspielereien hinaus. Geordnet werden eben bei versetzten Versen nur Textbausteine, die Themen der Besinnungsaufsätze verlassen den Bereich einer theoretischen Schulgelehrsamkeit nicht, Reden mögen zwar laut und um Wirkung bemüht sein, bleiben aber „kalt“, weil ihnen der Bezug zum echten Leben fehlt.

Für einen erfolgreichen Unterricht, so Herder, müssen die Sachen in den Mittelpunkt gestellt werden. Die dafür nötigen Worte ließen sich in der Auseinandersetzung mit den Unterrichtsgegenständen automatisch finden und verwenden. Sprache erhält nur eine dienende und begleitende Funktion zugesprochen. Worte sind ein „Register“, ein bloßes Verzeichnis und Benennungsinstrumentarium für die Beschäftigung mit den Sachen. Mit ihrer Hilfe werden die Dinge sortiert, katalogisiert und in ein Verhältnis zueinander gesetzt. Das, worauf es in der Schule ankommt, ist die Auseinandersetzung mit der natürlichen und sozialen Umgebung, so wie man ihr in Wirklichkeit begegnet.

Johann Georg Hamann: Die Aufgabe des Poeten

In seiner Aesthetica in nuce nutzt Johann Georg Hamann die christliche Metapher von „Buch der Natur“, um zu beschreiben, wie der Dichter bei seiner Arbeit vorgeht. Die Natur, so die Grundannahme, ist von Gott geschaffen und aus ihr kann herausgelesen werden, nach welchen Regeln die Schöpfung funktioniert und nach welchen Prinzipien der Mensch leben soll.

Anders als in der traditionellen Vorstellung geht Hamann jedoch davon aus, dass eine solche Lektüre nie an ein Ende kommen kann und ein Experiment mit ungewissem Ausgang bleibt. Gottes Pläne und Absichten lassen sich nie letztgültig erschließen. Die Einsicht in den sinnvollen Zusammenhang der Schöpfung kann gelingen oder scheitern, der Mensch bleibt im ständigen Dialog mit der ihm umgebenden Natur. Passend zur Genieästhetik kommt es auf den einzelnen an, der sich selbsttätig die Welt erschließen muss.

Rede, daß ich Dich sehe! Dieser Wunsch wurde durch die Schöpfung erfüllt, die eine Rede an die Kreatur durch die Kreatur ist; denn ein Tag sagt’s dem andern, und eine Nacht thut’s kund der andern. Ihre Losung läuft über jedes Klima bis an der Welt Ende, und in jeder Mundart hört man ihre Stimme. Die Schuld mag aber liegen, woran sie will (außer oder in uns): wir haben an der Natur nichts als Turbatverse und disiecti membra poëtae zu unserm Gebrauch übrig. Diese zu sammeln ist des Gelehrten; sie auszulegen des Philosophen; sie nachzuahmen*) – oder noch kühner! sie in Geschick zu bringen des Poeten bescheiden Theil.

*) Rescisso discas componere nomine versum;
Lucili vatis sic imitator eris.
Ausonius Epist. V.

Johann Georg Hamann, Aesthetica in nuce (1760)

Hamann beschreibt die Welt als ein Gespräch zwischen Geschöpfen Gottes. Im Gespräch miteinander sind nicht nur die Menschen, sondern alle Lebewesen, und die Pflicht zum Dialog gilt sogar für den Wechsel von Tag zu Tag und die Kontinutität, die zwischen ihnen hergestellt werden muss. Das Gespräch wird überall auf der Welt und in allen Sprachen geführt.

Im Gespräch teilt sich Gott als Schöpfer seinen Geschöpfen mit. Durch das Studium der Natur kann sich der Mensch genauso die Regeln der Schöpfung erschließen und zu Erkenntnissen kommen wie durch ein Gespräch mit einem Mitmenschen oder die Lektüre eines Buches.

Die Zusammenhänge muss er jedoch erst in Auseinandersetzung mit der ihn umgebenden Natur herstellen. Um dies darzustellen, erweitert Hamann die Metaphorik, derzufolge man in der Natur wie in einem Buch lesen kann, um das Verfahren der versetzten Verse. Der Mensch findet die Elemente in der Natur scheinbar zusammenhanglos vor, so wie Versbausteine, deren metrisch korrekte Anordnung aufgelöst worden ist. Er muss versuchen, diese „Turbatverse“ zu ordnen.

Das Gespräch zwischen den Geschöpfen Gottes leitet Hamann mit einem Sokrates zugeschriebenen, bei Apuleius überlieferten Spruch ein, den er in deutscher Übersetzung gibt: „ut te videam“, inquit, „aliquid et loquere“ (Apuleius, Florida 2.1). Erst durch das Sprechen, so soll der Spruch zeigen, wird der Mensch in seiner Individualität sichtbar. Gleichermaßen spricht die Natur, so ergänzt Hamann, auch mit dem Menschen.

Um die Form zu beschreiben, in der der Mensch mit der Natur zu tun bekommt, verweist Hamann neben den versetzten Versen auf die disiecti membra poetae, von denen Horaz in seinen Satiren spricht: Versbausteine eines zerlegten Dichters.

Horaz diskutiert die Frage, wann etwas als Dichtung gelten darf, und lehnt das Versmaß als rein äußerliches Kriterium ab. Auch Alltagssprache könne man nämlich in metrische Form bringen. Dichterisches Können zeige sich, wenn man die Reihenfolge der Wörter ohne Rücksicht auf das Metrum verändere, der entstehende Text aber trotzdem disiecti membra poetae biete, also den Dichter noch immer zu erkennen gebe.

si eripias
tempora certa modosque, et quod prius ordine verbum est
posterius facias, praeponens ultima primis, […]
invenias etiam disiecti membra poetae.


Wenn du das Versmaß wegnimmst und das in der Anordnung vorne stehende Wort zum dahinter stehenden machst, also das Letzte vor dem Ersten setzt, […] würdest du wohl noch immer Versbausteine eines zerlegten Dichters vorfinden.

Horaz, Satiren 1.4, V. 57-62

Horaz beschreibt ein Verfahren, das dem der versetzten Verse sehr ähnlich ist. Während Horaz die Qualität von Dichtung überprüfen will, soll der Schüler beim Ordnen versetzter Verse lediglich die Entscheidungen nachvollziehen, die zu gelungener Dichtung geführt haben. Beide Male geht es allerdings darum, was gute Dichtung ausmacht. Und dies genügt Hamann für eine assoziative Verbindung. Er macht die versetzten Verse der Gymnasien und die disiecti membra poetae des Horaz gleichermaßen zur Metapher für den Menschen, der sich mit seiner – sprachlich verfassten – Welt auseinandersetzt.

Hamann unterscheidet dabei verschiedene Formen, wie der Mensch mit dieser Situation umgehen kann, und formuliert ausgehend davon eine Dichtungstheorie. Die Elemente der Natur sind wie Versbausteine, die in einen regelhaften und vernünftigen Zusammenhang gebracht werden müssen. Dies bleibt aber dem Dichter vorbehalten. Der Gelehrte sammelt die Elemente, der Philosoph deutet sie, beide eben so, wie sie sich in der Natur zeigen. Der Dichter allein darf versuchen, die „Turbatverse“ „ins Geschick zu bringen“, also: versetzte Verse zu ordnen.

Hamann baut sogar noch eine Zwischenstufe ein. Statt die chaotische Welt in einen Zusammenhang zu bringen, könne der Dichter auch lediglich „nachahmen“, wie die Natur im Zustand der Ungeordnetheit wirkt. Als Beleg nennt er in der Fußnote den spätantiken Dichter Ausonius. Dieser lädt in einem metrisch verfassten Brief einen Bekannten zum Besuch und gleichzeitig zum Versemachen ein.

Dabei zerlegt Ausonius einen Ortsnamen in zwei Bestandteile und fügt ein Wort dazwischen ein. Das Prinzip der disiecti membra poetae findet also Anwendung auf ein einzelnes Wort, das auch noch zerteilt wird.

Invenies praesto subiuncta petorrita mulis;
Villa Lucani – mox potieris – aco.
Rescisso discas componere nomine versum;
Lucili vatis sic imitator eris.

Für Dich wird eine Kutsche vorbereitet mit Eselgespann, bald könntest Du das Lucani Dorf acus erreichen. Du solltest auch mal lernen Verse mit zerschnittenen Worten zu machen, dann kannst du ein Nachahmer des Dichters Lucilius sein.

Ausonius, Epistulae 5, V. 35-38

Mit der Fußnote erweitert Hamann seine Assoziationskette zur Natur als Ansammlung von Turbatversen noch einmal und verkompliziert sie zusätzlich. Bei Ausonius findet er den Hinweis auf ein wichtiges Vorbild für Horaz, den Satiriker Lucilius, der in seinen Texten gerne Wörter zerlegt. Dies genügt Hamann, um eine Verbindung zu seinem Konzept des Dichters andeuten zu können. Der Mensch, umgeben von zusammenhanglosen Elementen in der Natur, trifft auf den Dichter, der diese Situation nachahmt durch zerschnittene Wörter.

Hamann stellt den Dichter als Genie und Ausnahmeerscheinung dar, dem allein erlaubt ist, Ordnung in die scheinbar zusammenhanglose Welt zu bringen. Gleichzeitig ist er in besonderer Weise auf die antiken Autoren angewiesen. Sein Text ist zusammengebastelt aus Zitaten, von Apuleius, Horaz und Ausonius, die er in seinen eigenen neuen Kontext stellt, eine Dichtungstheorie unter den Bedingungen der Genieästhetik.

Durch die Art, wie Hamann mit den antiken Zitaten umgeht, führt er vor, wie er sich den Dichter als Genie vorstellt. Souverän fügt er Bausteine aus verschiedenen Quellen zusammen, indem er sie assoziativ für seine eigenen Argumentation verknüpft. Scheinbar spielerisch arbeitet er mit Versatzstücken unterschiedlichster Herkunft. Um Latein kommt er nicht herum. Es mag zwar nicht mehr die Sprache sein, in der er ein Dichter sein Können zeigt. Dennoch ist die Kenntnis lateinischen Texte unverzichtbar, um Bildung, Belesenheit und vor allem die eigene Assoziationskraft unter Beweis zu stellen.

Hinzu kommt, dass Hamann den wichtigsten Bestandteil seiner Dichtungstheorie, nämlich „Turbatverse“ „ins Geschick zu bringen“, dem lateinischen Unterricht an der humanistischen Gelehrtenschule entnimmt. Aus einer Arbeitstechnik aus dem Lateinunterricht, konzipiert für Anfänger in der Verskomposition, wird eine Expertenaufgabe für den Dichter in seiner Auseinandersetzung mit der ihn umgebenden Welt.

Dies ist eine überraschende Wendung. Entkoppelt von der Unterrichtswirklichkeit werden die versetzten Verse überhöht zum dichtungstheoretischen Programm. Und das ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, an dem die eigentliche Schulübung unter Druck gerät, vor allem innerhalb der Genieästhetik selbst, die für den selbsttätigen Menschen in seiner natürlichen Umgebung eintritt.

Schüler und Genie: Ein problematischer Gegensatz

Karl Gutzkow nimmt in dem 14. Brief seiner 1832 erschienenen „Briefe eines Narren an eine Närrin“ die Überlegungen der Genieästhetiker auf. Er erweist sich nicht nur als sorgfältiger Leser von Hamanns Aesthetica in nuce, sondern bezieht auch dessen metaphorischen Einsatz der Turbatverse auf ihren ursprünglichen Kontext, den Lateinunterricht. Diesem spricht er, wie Herder vor ihm, ein weiteres Mal die Möglichkeit ab, Dichter auszubilden.

In jener Zeit, als die Liebe noch wie mit süßem Kindeslallen an der Wiege unserer Jugend stand, bracht‘ ich Dir wohl öfter dichtbeschriebene Blätter, scheinbar in ungebundener Rede, die ich Dir zum Binden in gereimte Sträuße aufgab. Wie freuten wir uns, wenn Du bis auf Reim und Maßbewegung das in Prosa aufgelöste Original wiederherstelltest! Auf der lateinischen Schule hatt‘ ich diese Kunst von einem Lehrer gelernt, der einem Schüler Apollo‘s freilich wenig ähnlich sah.

Solche Turbatverse sind alle Dinge unserer irdischen Anschauung. Gott sitzt auf seinem Throne, und spielt auf der Harfe, deren Saiten Himmelssphären sind, die Harmonie der Welt. Jede Blume, der Krystall, ein leuchtender Edelstein sind die zerworfenen Glieder eines großen Gedichts. An sich nur einzelne Worte, ohne Zusammenhang, ohne Sinn und tonlos; wem es aber gelingt, ihre erste Fügung, wie sie der Dichter oben einst geordnet hat, wiederzufinden, an dessen Ohr mag es wohl wie himmlische Sphären klingen.

Karl Gutzkow, Brief eines Narren an eine Närrin (1832)

Der Briefschreiber erinnert seine Adressatin daran, wie er ihr deutsche versetzte Verse vorgelegt hat, aus denen sie das ursprüngliche Gedicht mit passendem Reim und Versmaß rekonstruierte. Die Technik, so gibt der Schreiber zu, stammt aus dem Lateinunterricht. Sein Lehrer sei aber kein „Schüler Apollo’s“ gewesen, also in der Dichtkunst nicht wirklich bewandert.

Die „Turbatverse“ könne man jedoch metaphorisch als Bild für die „Dinge unserer irdischen Anschauung“ nehmen. Die Geschöpfe Gottes um uns herum sind „die zerworfenen Glieder eines großen Gedichts“, das Gott einmal gedichtet hat. Füge man diese dieiecti membra poetae wieder richtig zusammen, seien auch die himmlischen Töne zu hören, mit denen Gott sein Gedicht unterlegt hat.  

Gutzkows Text erscheint wie eine Zusammenfassung der Genieästhetik bei Hamann und Herder. Auf der einen Seite steht der Lateinunterricht, der allen Bemühungen zum Trotz nicht zur Dichtkunst führen kann. Auf der anderen Seite der Mensch, der versuchen muss, seine natürliche Umgebung aus dem scheinbaren Chaos in eine Ordnung zu führen.

Dies ist auch für Gutzkow eine schwierige Aufgabe, die nur von wenigen gelöst werden kann. Denn man muss sich auf die Suche nach den Regeln machen, nach denen Gott, der Dichter der Welt, seine Bausteine geordnet hat. Findet man den Zusammenhang, kann man zwar Sinn und harmonischen Klang des göttlichen Gedichts wiederherstellen. Dies, so kann man mit Hamann ergänzen, gelingt höchstens einem genialen Dichter.

Aber was geht verloren, wenn man das Ordnen versetzter Verse und mit ihm das Lateinische aus dem Schulunterricht verbannt? Wieso tauchen Turbatverse und lateinische Zitate ausgerechnet dann in der Dichtungstheorie wieder auf? Und schließlich: Welche Vorteile hat ein Lateinunterricht, der sich mit der Produktion eigener lateinischer Verse befasst, gegenüber einer auf Wirklichkeit und Muttersprache ausgerichteten Schule?

Hamann definiert drei Rollen, wie der Mensch im Buch der Natur lesen kann, den Gelehrten, der sammelt, den Philosophen, der deutet, und den Dichter, der nachahmt und ordnet, was er in der Natur vorfindet. Die Unterrichtsfächer in Herders idealer Schule sind ganz ähnlich eingeteilt. Dem sammelnden Gelehrten entsprechen die Klassen 1 und 2, in denen Naturwissenschaften, Mathematik, Erdkunde und Ethnologie betrieben werden. Dem deutenden Philosophen lässt sich die Klasse 3 zuordnen, in der es um das sittliche Empfinden und moralische Handeln geht. Den Dichter aber, dem Hamann eine herausgehobene Rolle zuspricht, lässt Herder weg, für ihn ist kein Platz in der Schule. Es scheint zu genügen, dass der Schüler sich die Natur tätig aneignen kann, in verschiedenen kulturellen Kontexten klarkommt und über Benimmregeln sowie eine solide moralische Orientierung verfügt.

Dies ist insofern verwunderlich, als dass der Dichter genauso wie ein Gelehrter und ein Philosoph in der Natur liest, also alle drei von der gleichen Arbeitstechnik ausgehen.

Alle lesen im Buch der Natur, jeder könnte ein Dichter sein. Trotzdem soll es nur wenigen möglich sein, sich dichterisch zu betätigen. Hierfür legen Hamann und Herder eine rigide Rollenverteilung fest und bauen eine größtmögliche Distanz zwischen Schüler und Genie auf. Herder verbannt dichterische Versuche gleich ganz aus der Schule, Hamann sieht im Dichter ein besonderes Talent am Werk, das über herausragende Bildung, nicht zuletzt im Lateinischen, verfügen muss.

Während alle anderen sich an der Wirklichkeit in Natur und Kultur abarbeiten, genießt der Dichter eine Sonderstellung, ist umfassend gebildeter Experte und Ausnahmeerscheinung in einem. Die anderen sammeln und deuten bloß, er darf die Turbatverse ordnen.

Im Gegensatz dazu ist die Arbeit mit versetzten Versen im Lateinunterricht, gegen die sich Herder wendet, offen angelegt.

Das Instrumentarium und die Arbeitstechnik des Dichters werden von Anfang an zugänglich gemacht. Es gibt lediglich verschiedene Schwierigkeitsgrade, und der Weg zur eigenen Komposition lateinischer Dichtung verläuft über mehrere Schritte. Durch das Ordnen versetzter Verse lernt der Schüler am vorgegebenen Beispiel, wie Verse gebaut sein müssen. Werden Änderungen an den Versen vorgenommen, muss er an ausgewählten Stellen selbst die passenden lateinischen Wörter finden. Erst dann werden Sätze oder Themen aufgegeben, für die er die passenden Bausteine selbststständig zusammensuchen muss.

Außerdem sind insbesondere die weiterführenden Übungen nicht verbindlich für alle Schüler. Das Ordnen versetzter Verse ohne Veränderungen am Wortbestand, also der erste Schritt zum Versemachen, ist für alle verpflichtend. Schließlich kann jeder ein Dichter sein. Anders sieht es bei den anderen Stufen aus. Hier entscheidet Talent und Neigung, in welchem Umfang sich ein Schüler daran macht, selbst lateinische Verse zu schreiben.

Eine solche Schule ermöglicht das Spiel mit Worten in einem Schutzraum, jeder kann es versuchen und ausprobieren, wie weit er kommt. Anders als bei Herder und Hamann darf hier jeder von Anfang an Turbatverse ordnen, es ist ja nur eine Übung.


Verwendete Literatur

Herder, Johann Gottfried von: Sophron. Gesammelte Schulreden. Hrsg. durch Johann Georg Müller, Tübingen: Cotta 1810, S. 284-287. Scan 302-305. Link zur Bayerischen Staatsbibliothek.

Herder, Emil Gottfried von: Johann Gottfried von Herder’s Lebensbild in 6 Bänden: sein chronologisch geordneter Briefwechsel, verbunden mit den hierhergehörigen Mittheilungen aus seinem ungedruckten Nachlasse, und mit den nöthigen Belegen aus seinen und seiner Zeitgenossen Schriften. Bd. 2, Erlangen: Bläsing 1846, S.219-224, scan 227-232. Link zur Bayerischen Staatsbibliothek.

Herder, Johann Gottfried von: Herders sämmtliche Werke. Bd. 4. Hrsg. von Bernhard Suphan, Berlin: Weidmann 1878, S. 387-391, scan 411-414. Link zur Bayerischen Staatsbibliothek.

Hamann, Johann Georg: Hamann’s Schriften. Bd. 2. Hrsg. von Friedrich Roth, Berlin: Reimer 1821, S. 261-262. Scan 273-274. Link zur Bayerischen Staatsbibliothek.

Dell’Anno, Sina: „Der Philolog redet nicht selbst“ – Zur Cento-Technik Johann Georg Hamanns. In: Manuel Baumbach (ed.), Cento-Texts in the Making. Aesthetics and Poetics of Cento-Techniques from Homer to Zong!, Trier 2022, S. 201-218.

Langbein, Florian: Der satirische Agon. Das erste Satirenbuch des Horaz als agonale Mischgattung und als Dispositiv der Macht. Bamberg: University of Bamberg Press 2021, S. 200-206. Link zur Universitätsbibliothek Bamberg.

Gutzkow, Karl: Briefe eines Narren an eine Närrin, Hamburg: Hoffmann und Campe 1832, S. 152, scan 166. Link zur Bayerischen Staatsbibliothek.

Bosse, Heinrich: Dichter kann man nicht bilden. Zur Veränderung der Schulrhetorik nach 1770. In: Jahrbuch für internationale Germanistik 10.1 (1978), S.80-125, hier: S. 87 und S. 118-125.

Jorgensen, Sven-Aage: Turbatverse und Fortgebäude. Über den fehlenden Einfluß J. G. Hamanns auf Herders Auch eine Philosophie der Geschichte. In: Bückeburger Gespräche über Johann Gottfried Herder 1983, Rinteln: Bösendahl 1984, S. 111-121.