Scharteken: Einleitung


Mein armer Emil! Die Mode wird dir alle Kraft aus den Sehnen saugen. Du kennst Sophokles, Horaz, Shakespeare, Göthe und welche jämmerlichen Scharteken liest du?

Karl Gutzkow, Die Zeitgenossen (1842)

Warum Broschüren und Scharteken?

Ein Paradox. Schwierige Literatur kann jeder sofort verstehen. So klar und treffend ist jeder Satz formuliert. Kein Wort an der falschen Stelle, kein Gedanke bloß angedeutet, kein Bonmot an- und nicht zuende gedacht. Der Leser der schwierigen Literatur muss nur wollen, seinen Verstand gebrauchen, mitdenken. Das ist gar nicht viel verlangt. Ganz anders bei der unvollkommenen Literatur. Anstrengend! Gewollt und nicht gekonnt. Oder vielleicht sogar noch nicht mal richtig gewollt. Soll sich doch der Leser seinen Teil dazu zusammenreimen. Fragen verhallen ohne Antwort: Was meint der Schreiberling denn jetzt? Weiß er selbst nicht. Eine Qual für jeden verständigen Leser!

„[U]nd so, wie die erhabensten Sätze am leichtesten zu verstehen sind (nur das Minutiöse ist schwer zu begreifen), so gefällt das Schöne leicht; nur das Mangelhafte und Manierierte genießt sich mit Mühe.“

Heinrich von Kleist, Ein Satz aus der höheren Kritik, 1811

Das Minutiöse. Kleinlich, pedantisch, detailversessen, skrupulös, perfektionistisch. Er kann sich nicht entscheiden, setzt Masse über Klasse, Hauptsache alles aufgezählt. Quält sich ab, findet kein Ende, keinen Punkt, kein Komma.

Das Manierierte. Ausladend, von allem zu viel, Reihen, Aufzählung, Effekt durch Mehr statt durch das eine entscheidende, kein klares erlösendes Wort. Fülle, zu voll.

Das Mangelhafte. Da fehlt noch was. Mitten im Satz aufgehört. Kein Lust, keine Zeit. Da gab es was Wichtigeres. Vielleicht auch kein Geld.

So wie wir alle meistens. Heute nicht in Topform. Kein Glanzstück. Nur halbe Sachen. Deswegen kann das auch ruhig vergessen werden, oder? Weiter hinten einsortieren – oder gleich wegwerfen.

„Alles dies ist so wahr, dass der Gedanke zu unsern vollkommensten Kunstwerken (z.B. eines großen Teils der Shakespeareschen) bei der Lektüre schlechter, der Vergessenheit ganz übergebener Broschüren und Scharteken entstanden ist.“

Heinrich von Kleist, Ein Satz aus der höheren Kritik, 1811

In den Broschüren und Scharteken sind sie versteckt, die großen Ideen, die entscheidenden Momente. Die Geschichte, die noch darauf wartet, endlich erzählt zu werden. Die Geschichte, die uns fesselt, nicht mehr loslässt, bewegt, zum Weiter- und Weiterrätseln auffordert.

Das ist eigentlich viel interessanter als das langweilige Ergebnis. Wer will immer mit Vollkommenen zu tun haben? Viel besser: Die endlosen Versuche, etwas Vollkommenes zu schaffen. Der Weg zur Weltliteratur. Die Leute, denen auf halber Strecke zum Gipfel die Puste ausgeht. Die frustriert umdrehen. Die keinen Meter höher kommen, obwohl sie sich schon fast ganz oben wähnen. Die Verirrten. Die Fehlgeleiteten. Die Verkommenen. Und nicht zuletzt die, die gar nicht nach oben wollen. Denen es weiter unten viel besser gefällt. In Bodennähe kriecht es sich am sichersten.

Broschüren und Scharteken erzählen davon, wie Weltliteratur entsteht. Wie Weltliteratur aussieht, bevor sie fertig ist. Aus Broschüren und Scharteken kann man lernen, wie Literatur funktioniert.

Archivrecherchen zur populären Literatur

Also auf geht’s! Wir lesen Hefte, Blätter, Illustrierte, Kataloge, Alben, Magazine. Vergilbtes Papier auf dem Weg in den Altpapiercontainer. Ungelesenes Schrifttum. Ephemeres. Und vor allem: alte Bücher, gerne auch Teile davon.

Scharteke: „von alten schriftstücken, büchern, im verächtlichen sinne, auch schlechtes, unnützes, wertloses schriftstück“ (Grimms Wörterbuch). „Der Ausdruck ist vermutlich in der Schülersprache der Lateinschulen entstanden“ (Pfeifer, Etymologisches Wörterbuch). Typisch. Schüler haben mal wieder was nicht richtig verstanden, nur halb zugehört. Machen was sie wollen, sogar ihre eigenen Wörter. Verniedlichung und Verkleinerung von lateinisch charta, Papyrusblatt, zu chartula, Blättchen. Schmierzettel. Fetzen Papier. Neue Endung dran. Wie bei „Parteke“ – „Brotschnitte als Almosengabe für fahrende Schüler“ (Pfeifer, Etymologisches Wörterbuch). Fahrende Schüler: Herumtreiber, Leute ohne Status, im Zustand des Noch-Nicht, angewiesen auf Almosen und milde Gaben. In dem Milieu gibt es die Scharteken. Aber verachtet mir die fahrenden Schüler nicht! Aus ihnen kann noch eine Menge werden, vielleicht sogar jemand, der die Welt aus den Angeln hebt.

Darumb verachte mir nicht die gesellen, die fur der thür panem propter Deum sagen und den brot reigen singen. […] Ich bin auch ein solcher parteken hengst gewest und hab das brot fur den heusern genomen.

Martin Luther, Eine Predigt, dass man Kinder zur Schule halten solle (1530)

Und immer an Kleist denken. Das ganze „genießt sich nur mit Mühe“. Scharteken lesen bedeutet richtig Arbeit.

Erstmal müssen wir Scharteken finden. Ich wähle den radikal subjektiven Zugang. Ein Buch, ein Heft, ein altes Papier, das mir irgendwann in die Finger gekommen ist. Ein Reclam-Band. Ein Prachtband mit Goldschnitt und Illustrationen aus Omas Bücherschrank. Ein Comic-Heft. Ein Druck aus den digitalen Sammlungen. Ein Werbeheft. Eine Film-Illustrierte. Am besten gleich mehrere davon.

Und: Populär muss es sein. Dort lauert das Mangelhafte. Unter Zeitdruck noch schnell fertiggeschrieben. Abgabetermin, Stress beim Schreiben, es kommt eh nicht so drauf an. Das Minutiöse. Jemand der sich verzweifelt abarbeitet an einer Frage, über die er noch nachdenken müsste, die er aber lieber wegschreibt. Der Unsichere tritt auf der Stelle und kriecht am Boden. Das Manieristische. Selbstverliebt kreist der Schreiber um seine eigene Beredsamkeit, begeistert und besoffen an sich selbst. Zu weich, um den Rotstift anzusetzen, unfähig zu kürzen oder das Doppelt-Gesagte zu vereinfachen.

Dann kommen die Fragen: Wo ist das Minutiöse, das Manierierte, das Mangelhafte? Was könnte man daraus machen? Was haben andere daraus schon gemacht? Welche „erhabensten Sätze“ hat jemand korrigierend formuliert? Welches von unseren „vollkommensten Kunstwerken“ ist hier angedacht, aber leider noch nicht ausgeführt?

Die Untersuchung muss assoziativ vorgehen: Ein Gedanke, am besten unklar formuliert. Anderswo taucht er wieder auf, hoffentlich besser formuliert. Welches Kunstwerk taucht dabei am Horizont auf? Verbindungslinien müssen gezogen werden. Gibt es gleiche Motive? Formeln, Diskurse, Gedanken, die immer wieder kehren? Wo sind sie am besten ausformuliert? Wer hat den Gedanken endlich endlich erfasst?

Ziel ist eine Ethnologie der Scharteken und Broschüren. Eine Ethnologie der Literatur im Zustand des Noch-Nicht. Welche rhetorischen Techniken sind am Werk, bewusst oder unbewusst? Wie erzählt sich populär? Welche Themen bewegen den populären Leser? Was lässt sich daraus machen? Wie kann daraus eins unserer „vollkommensten Kunstwerke“ werden? Und was geht dabei verloren?

Damit wir uns nicht verzetteln

Broschüren und Scharteken lassen sich so schwer sortieren, einordnen oder gar in ein System bannen. Da kann man schon mal den Überblick verlieren. Also am besten gar nicht erst versuchen. Wir schreiben kleine, überschaubare Blogbeiträge.

Die Recherche geht krumme Wege. Mäandert. Kommt vom Weg ab, findet neue Wege, muss sich manchmal erst voller Mühsal einen Pfad durchs Dickicht bahnen. Kommt von Höcksken auf Stöcksken. Von Blog zu Blog.

Die Recherche ist eine Fortsetzungsgeschichte. Manchmal muss man Pause machen. Durchatmen. Zwischenstopp einlegen und zufrieden sein, mit dem, was man hat. Auch wenn man noch nicht alles hat. Blogbeiträge folgen dem Prinzip „Fortsetzung folgt“ und „Was bisher geschah“.

Und am Ende gibt es eine ausgiebige Gesamtreflexion. Wir ziehen Bilanz. Mit Abstand. Betrachten aus der Distanz. Worüber hat der Autor da eigentlich geschrieben? Schauen wir mal, was dabei herauskommt.

Sammelbegriffe. Gibt es Muster, heimliche Vorlieben, wiederkehrende Motive, von denen ich nichts ahnte? Besessenheiten? Lauert da ein ungeahnter Schrecken? Zeigen sich Schwerpunkte? Kommt etwas immer wieder vor? Gibt es Merkmale, die vielleicht typisch sein könnten für populäre Kultur? Was macht Broschüren und Scharteken aus? Beobachtungen, Wiederholungen, Auffälligkeiten werden mit Oberbegriffen zusammengefasst. So eine Art Ergebnis.

Schreibtechniken. Wie wirkt sich der Umgang mit Scharteken auf das Schreiben aus? Was für Verfahren bestimmen das Schreiben über populäre Kultur aus den Archiven? Was passiert, wenn Scharteken im Mittelpunkt stehen? Broschüren und Scharteken brauchen eigene Schreibtechniken. Ich stelle Verfahren zusammen, die sich beim Schreiben ergeben haben.

Listen und Verzeichnisse. Und natürlich: Übersichten, Auflistungen, alphabetisch. Welche Weltliteratur kommt hier eigentlich vor? Welche Broschüren? Welche Scharteken finde ich wichtig? Und als Bonus: Eine Liste mit digitalen Archiven. Damit du selbst etwas recherchieren kannst.


Verwendete Literatur

Heinrich von Kleist, Ein Satz aus der höheren Kritik (1811). In: Heinrich von Kleist, Werke in zwei Bänden, Berlin und Weimar 1985, Bd. 1, S. 326-327.

Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe 30. Band, Zweite Abteilung, Weimar 1909, S. 576.

Karl Gutzkow, Die Zeitgenossen, 1842.

Lexikoneinträge nach dem Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, hier besonders dem Grimmschen Wörterbuch.