Gregor Samsa Superstar (Held im Hotel Mama 1)


„Über dem Tisch […] hing das Bild, das er vor kurzem aus einer illustrierten Zeitschrift ausgeschnitten und in einem hübschen, vergoldeten Rahmen untergebracht hatte.“

Franz Kafka, Die Verwandlung (1916)
Was steckt hinter der Tür? Was passiert, wenn man das Grauen ausleuchtet?
(Franz Kafka, „Die Verwandlung“, Cover der Erstausgabe)

Die Voraussetzungen waren alle da.

Und „so nahm er zur Zerstreuung die Gewohnheit an, kreuz und quer über Wände und Plafond zu kriechen. Besonders oben auf der Decke hing er gern; es war anders, als das Liegen auf dem Fußboden; man atmete freier; ein leichtes Schwingen ging durch den Körper; und in der fast glücklichen Zerstreutheit, in der sich Gregor da oben befand, konnte es geschehen, dass er zu seiner eigenen Überraschung sich losließ und auf den Boden klatschte. Aber nun hatte er natürlich seinen Körper ganz anders in der Gewalt als früher und beschädigte sich selbst bei einem so großen Falle nicht.“

Auf dem Kopf stehen, frei schwebend, die Decke hoch und runter laufen, federleicht, Glück. Höchste Körperkontrolle, Macht und Möglichkeit, Gewalt und Selbstbeherrschung. Übermenschliche Kraft, unbesiegbar wie ein Gott. Und so überraschend, neuartig, einzigartig, schau an, was alles in Dir steckt! Das müsste man doch gewinnbringend einsetzen können. Menschen in Not plötzlich zu Hilfe kommen. Herbeifliegen, Herbeiklettern, plötzlich da sein. Fallende festhalten und schützen. Böse überraschen und vertreiben. Du kannst ein Superheld werden, Gregor. Und Du bist endlich Du selbst. Was du alles kannst!

Gregor Samsa ist Superman.

Die Ähnlichkeiten sprechen für sich. Auch Superman ist außergewöhnlich stark. Er kann Autos hochheben und Stahlträger zerbrechen, kann schnell laufen oder sogar fliegen. Und dann die special features: Röntgenblick, undurchdringliche Haut, Kugeln prallen an ihm ab, extrem feines und weitreichendes Gehör. Und woher die ganze Kraft kommt, lässt sich auch erklären. Superman ist eine außerirdische Waise, ohne Eltern in der Fremde, stammt von dem Untergang geweihten Planeten Krypton, seine Eltern setzen ihn in ein Raumschiff zur Erde, um ihm ein Weiterleben zu ermöglichen. Vielleicht ist Gregor ja auch so ein Außerirdischer, hat nur bisher unerkannt als Handlungsvertreter gearbeitet. Und jetzt ist es rausgekommen, die Sachen mit Kriechen, Klettern und Springen.

Zugegeben, so viel Kraft bringt Verpflichtungen mit sich. Das muss man aber bloß ein bisschen aktiv gestalten, siehe Superman. Dessen Pflegeeltern, die Kents, besprechen mit ihm, wie er mit seinen Kräften so umgeht, dass er sie wirklich zum Wohle der Menschheit einsetzen kann. Besser erst mal geheim halten, nichts überstürzen.

Zusammen konstruieren sie einfach eine handliche Doppelidentität. Der Superheld trägt Zirkuskostüm mit S-Emblem, damit jeder gleich Bescheid weiß. Der gewöhnliche Durchschnittsmann führt ein bürgerliches Leben mit Brille und bravem Haarschnitt. Und die Muskeln verstecken wir geschickt unter dem Biedermann-Outfit. Stil ist alles. Für Gregor eigentlich kein Problem: Biedermann ist er schon, hat einen öden Job als als Vertreter für Tuchwaren, wohnt sowieso noch bei Mutti und Vati. Fehlt eigentlich nur noch eine coole Superhelden-Ausrüstung.

Aber warum wurde Gregor Samsa kein Superman?

Liegt halt an den Eltern, die verstecken ihn gleich richtig. Sperren ihn weg. Lieber eingesperrt in seinem Zimmer, nicht, dass ihn noch jemand zu Gesicht bekommt. Wie peinlich vor den anderen. Er sollte doch einen bürgerlichen Beruf ausüben, eine eigene Wohnung beziehen, eine eigene Familie gründen, eine beschauliche Karriere vor sich, die den kleinen Aufstieg verspricht. Und dann das. Ein ekliger Käfer. Ein Drückeberger, hält nichts aus, packt es nicht, nicht mal den Job als Handlungsreisender. Wie soll denn da ein anständiger Mensch aus ihm werden? Schnell wegschließen.

Weit und breit keine verständnisvollen Pflegeeltern wie die Kents, die die Superkräfte erkennen und gemeinsam mit ihrem überforderten Sohn überlegen, wie sich damit leben lässt, wie sich damit helfen lässt, wie man mal eben die Welt aus den Angeln hebt.

Zweiter Versuch. Wenn nicht Superman, dann vielleicht Spiderman?

Samsa nach der Verwandlung. Gregors Körper erneuerte sich jetzt selbst, kräftig, stark, unbesiegbar, Science Fiction plötzlich wahrgeworden. „Seine Wunden mussten übrigens auch schon vollständig geheilt sein, er fühlte keine Behinderung mehr“. Jetzt war er ein unsichtbarer Lauscher an der Wand. Geheimnisvoll, unentdeckt und machtvoll, „während er dort aufrecht an der Türe klebte und horchte“. Klebte? Ja klar, „er hinterließ ja auch beim Kriechen hie und da Spuren seines Klebstoffes“.

Auch hier muss man nicht lange nach Ähnlichkeiten suchen. Peter Parker ist eigentlich ein schüchterner und unbeliebter Nerd, keine Freunde, wächst als Waise bei Tante und Onkel auf. Bis er von einer radioaktiv verseuchten Spinne gebissen wird und Spinnenfähigkeiten entwickelt. Peter hat jetzt Netzdrüsen mit Netzflüssigkeit in seinen Händen und kann damit Netze spinnen. Er kann sich an Wänden festheften, Netze auswerfen und mit einzigartigem Spinnensinn Gefahren erspüren. Was kann wohl Gregor alles mit seinem Klebstoff machen?

Eine Dame mit Pelzmuff, Katalog von 1912

Bei Spiderman gibt es auch noch ein Love-Interest: Black Cat, Diebin im Kostüm, eigenständig und moralisch unzuverlässig, muss von Spidie gebändigt werden, lässt sich aber nicht bändigen. Auch wenn sie immer mal wieder schwört, nie mehr zu stehlen, wechselt sie dann doch wieder die Seiten. Anstrengend. Femme fatale.

Gregor hat auch eine Black Cat in seinem Leben, schüchternd eingerahmt, im Moment noch als Bild, „das er vor kurzem aus einer illustrierten Zeitschrift ausgeschnitten und in einem hübschen, vergoldeten Rahmen untergebracht hatte“.  Aber immerhin ein Bild, und es ist ihm so wichtig, dass er es vor dem Zugriff seiner aufräumwütigen Schwester verstecken will. Denn darauf ist ganz offenbar seine Traumfrau zu sehen, der er erst noch begegnen muss.

Das Bild „stellte eine Dame dar, die, mit einem Pelzhut und einer Pelzboa versehen, aufrecht dasaß und einen schweren Pelzmuff, in dem ihr ganzer Unterarm verschwunden war, dem Betrachter entgegenhob“. Eine starke Frau, die weiß, was sie will, sich „aufrecht“ dem Gegenüber entgegenstellt. Rätsel Frau, femme fatale, undurchsichtig, schön, anziehend, herausfordernd.

Wer bestimmt in der Beziehung? Setzt die Dame im Pelz ihren Willen durch? Oder doch Gregor Spiderman? Nach so was sehnt sich Gregor, davon träumt er. Er würde sie bestimmt finden bei seinen nächtlichen Aktionen für das Gute, unterwegs mit seinem magischen Klebstoff.


Verwendete Literatur

Franz Kafka, Die Verwandlung, Leipzig; Wolff 1915. urn:nbn:de:bvb:12-bsb00087391-2

Abbildungsnachweise

Franz Kafka, Die Verwandlung, Leipzig; Wolff 1915. urn:nbn:de:bvb:12-bsb00087391-2, Scan 5 (Cover der Erstausgabe). Creative Commons License: Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International (CC BY-NC-ND 4.0).

Dame mit dem Pelzmuff. Link zu Wikipedia. Creative Commons License: Public Domain Mark 1.0.