Gelehrtenfreundschaft und Handschriftenliebe (Magister Knips 1)


Du weißt, dass ich sehr wenig Literator bin; weißt aber auch, dass ich von der Schule aus noch viel Vergnügen habe, dann und wann einen alten Knaster in seiner eigenen Sprache zu lesen. Livius war immer einer meiner Lieblinge, ob ich gleich Thucydides noch lieber habe. Ich wiederhole also wahrscheinlich zum zehntausendsten Male die Klage, dass wir ihn nicht mehr ganz besitzen.

Johann Gottfried Seume: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802.
Römische Geschichte. Livius, Tacitus, dazwischen die verlorene Handschrift.

Weltliteratur kann manchmal auch einfach weg sein. Futsch. Verschwunden, verloren, untergegangen. Hamwa nicht, ist aus und kommt auch nicht wieder rein. Lieferschwierigkeiten, für immer. Dead end. Hier geht es nicht weiter. Sackgasse, kein Durchkommen. Ende der Fahnenstange. Bis hierher und nicht weiter.

Traurig. Ich hätte nur zugern gewusst, wie es weitergeht. Wo ich doch die alten Knaster dann und wann ganz gerne in ihrer eigenen Sprache lese.

Verschwundene Weltliteratur: Römische Geschichte

So wie bei den 142 Büchern der Römischen Geschichte des Titus Livius, geschrieben rund um Christi Geburt. Lesen können wir heute nur die Bücher 1-10 und 21-45, und dass die Bücher 41-45 überhaupt dabei sind, verdanken wir Simon Grynaeus, der 1527 bei der Archivrecherche in der Klosterbibliothek Lorsch eine alte Handschrift aus dem 5. Jahrhundert wiederentdeckt.

1527 wiedergefunden. Livius-Handschrift aus der Klosterbibliothek Lorsch.
Gerade noch Scharteke, plötzlich Weltliteratur.

Da fehlen immer noch 142 – 35 = 107 Bücher. So ein Mangel ruft verständlicherweise Gelehrte auf den Plan, die die Lücke füllen wollen. Nicht ganz abwegig. Das hat ja schon mal geklappt, siehe Simons Fund. Die Handschrift vor Urzeiten in Italien geschrieben, dämmerte jahrhundertelange hinter Klostermauern vor sich hin. Was für die unwissenden Mönche als Scharteke gilt, ist für den Gelehrten mit Kennerblick eine Kostbarkeit. Weltliteratur. Der Traum jedes Archivrecherchierenden: Bedeutendes finden, selbst bedeutend werden. Vielleicht reich, sicher aber berühmt.

News aus Bremen: Die Norwegen-Connection

Statt weiterer Bücher gibt es aber vor allem eines: Gerüchte. Vom Hörensagen Bekanntes. Aufgeschnappt, unter dem Siegel der Verschwiegenheit mitgeteilt. Eingeflüstert. Im Vertrauen. Und nicht zu knapp. Der Norddeutsche Daniel Morhof sammelt 1685 in seinem Livius-Buch zu Beginn erstmal ganz viele Geschichten über noch irgendwo versteckte Bücher, bevor er sich mit Livius selbst befasst.

Als Gewährsmann für die Gerüchteküche zitiert Daniel ganz vorne den Über-Gelehrten Erasmus von Rotterdam, der schon ein Jahrhundert vorher von Buzz und Mundpropaganda, rumores per ora quorundam volitantes, zu berichten weiß. Als echter Gelehrter natürlich auf Latein. Viele wollen vieles wissen. Geht da doch mal gucken. Man müsste sich mal auf die Suche machen. Wenn Du mich fragst, ist da noch was zu holen. Bevorzugte Expeditionsziele für Archivecherche sind laut Erasmus Dänemark, Polen, Deutschland, aber leider erzählt jeder etwas anderes, dum hic apud Danos, ille apud Polones, alius apud Germanos haberi Liviana quaedam nondum edita iactitat.

Zwei Seiten später wird es aber est richtig spannend, gar aufregend. Daniel Morhof hat nämlich selbst eins von diesen Gerüchten im Gepäck, einen neuen Hinweis, den er über mehrere Ecken in Erfahrung gebracht hat. Und das geht so: Der in vielerlei Hinsicht gelehrte Dominus Diecmannus, Superintendent beim Herzogtum Bremen (Ecclesiarum per Ducatum Bremensem et Verdensem Antistes), hat ihm nämlich mitgeteilt, was er in einem schediasma, „einer kurzen eilfertigen Schrift“ (Adam Kirsch, Cornu Copiae Linguae Latinae 1774), gefunden hat.

Aufgemerkt! Ein schediasma, ein schnell hingekritzelter Aufsatz, ein hastig zusammengeschriebener Entwurf. Kurz: eine Broschüre! Der erste Weg zur Scharteke und dann haben wir schon bald plötzlich Weltliteratur. Was könnte vielversprechender sein als das?

Urban Legend auf Plattdeutsch

Und was steht drin, in dem schediasma? Daniel Morhof: Verfasst hat das schediasma der Rechtsgelehrte im Kirchendienst Johann Hering zu Bremen (Jurisconsultus, Syndicus Capituli Bremensis). In einem Buchkatalog, den er im Jahre 1630 ebenda niederschreibt, weiß er von einer tollen Geschichte: Er habe in einer alten handschrftlichen Chronik – vielleicht eine Scharteke – eine aufschlussreiche Notiz gefunden, und die geht so:

Anno 1521 starff D. Martinus Grönning/ van Bremen/ und Cantor im Dome tho Bremen/ een sehr gelehrt Man/ de hadde tho Rome im Collegio Sapientiae publice gelesen/ he hedde ock de Decaden und Boecker Titi Livii, de man nicht heft/ sondern verlahren sind/ de waren geschreven und hedden betherto in Norwegen in Druntheim in de Liberey gewesen/ de krech he tho sinen handen/ und schreeft solckes an sinen goden Fründ Philippum Beroaldum, des Pauftes översten Bibliothecarium, de schreeft öhme wedder/ he scholde darmede tho Rom kamen/ he wolde darunder de versehung doen/ dat öhme thor stunde/ ohne sine terung und weg 1000 Ducaten scholden erlegt/ und verehrte werden. Aeverst Martinus starff middelertydt/ do wurden de gefundene Böcker Livii, von Kindern und andern/ de darvan kenen Verstand hadden/ thoreten und verdorven/welckes tho beklagen is/ dat also düsse edle Böecker wedderum verlahren und nicht an den Dag gekamen.

Morhof, De Patavinitate Liviana (1685), plattdeutsches Original

Morhof zitiert seine Quelle schön original auf plattdeutsch, verba sermone vulgari Germanico, quo notata sunt, übersetzt sie aber für seine gelehrten Leser sicherheitshalber auch ins Lateinische, latine conversa, wir sicherheitshalber ins Hochdeutsche.

Im Jahre 1521 starb Herr Martin Grönning aus Bremen, Cantor im dortigen Dom, ein sehr gelehrter Mann, der öffentlich zu Rom im Collegio Sapientiae gelesen hat. Er besaß Dekaden und Bücher des Titus Livius, die verloren gegangen sind. Er hatte sie aus der Bibliothek in Trontheim in Norwegen erhalten, wo sie vorher gelegen hatten. Grönning benachrichtigte seinen guten Freund Philipp Beroaldus, den obersten Bibliothekar des Papstes. Dieser schrieb ihm zurück, er solle jene Bücher nach Rom mit sich bringen. Er wolle dafür Sorge tragen, dass ihm sofort, zusätzlich zu Spesen und Anreise 1000 Dukaten ausgezahlt und übergeben werden. Aber weil Martin in der Zwischenzeit gestorben war, wurden die gefundenen Bücher des Livius von Kindern und anderen unverständigen Menschen zerrissen und vernichtet. Es ist zu beklagen, dass daher diese edlen Bücher wieder verloren gingen und nicht ans Tageslicht gebracht wurden.

Morhof, De Patavinitate Liviana (1685), deutsche Übersetzung

Was will man mehr. Zuverlässig wie jede gut etablierte urban legend: Ich habe gelesen hat, dass einer gelesen hat, und der hat gelesen. Gegen mögliche Kritik bringt Morhof die Seriösität seiner Informanten und Botengänger in Anschlag. Es wimmelt nur so von Amtsträgern, die meist auch gleich einen direkten Draht nach Rom haben: Diecmannus, Hering, Grönning, Beroaldus, alle gelehrt, einer sogar vor Ort beim Papst.

Morhof will uns keinen Hering aufbinden. Der eine Gelehrte teilt dem anderen gewissenhaft mit, was er in der Handschrift gelesen hat.

Das holprige Plattdeutsch verleiht dem Ganzen noch mehr den Touch des Authentischen. Es geht wohl kaum geheimnisvoller: Das echte Dokument, ungeschminkt zitiert, in der Sprache des einfachen Volkes. Um so schlimmer, was da auf Plattdeutsch berichtet wird: die ungebildeten und ahnungslosen machen alles kaputt, zerlegen es in seine Einzelteile, „thoreten und verdorven“. Dabei klang die Norwegen-Connection ja ganz vielversprechend. Hatte nicht schon Erasmus nach Nord- und Osteuropa gezeigt?

Detail am Rande: Sogar die Reisekostenabrechnung ist fest eingeplant, Grönning kriegt als Belohnung für die Handschriftenlieferung einen garantierten Festpreis, Weg und Zehrung extra on top oben drauf. Für die Dekaden des Livius lässt Rom sich nicht lumpen.

Decaden und Boeker Titi Livii, de man nicht heft, sondern verlahren sind.
Gerüchte, auf plattdeutsch.
Morhofs Text in gewöhnlicher Antiqua, plattdeutsche Quelle in Fraktur, lateinische Übersetzung kursiv.
Gerüchte, im Schriftbild markiert.

Was gibt die Suche nach den Livius-Handschriften bisher her? In Abwesenheit echter Weltliteratur haben wir immerhin viel gelehrte Korrespondenz, leider auch zerrissene Handschriften und unsachgemäße Handhabung durch Ahnungslose. Kirchliche Amtsträger sind mögliche Hüter verlorener Handschriften. Scharteken liegen vielleicht in Norddeutschland unbeachtet herum.

Konspiratives Treffen in Leipzig

Was weg ist, kann man wiederfinden. Man muss nur genau hinhören: Gerüchte, Geheimnisse, im Flüsterton Vorgetragenes. Psst, nicht weitersagen.

Szenenwechsel in die Mitte des 19. Jahrhunderts, wir befinden uns in der Universitätsstadt Leipzig. Der angehende Schriftsteller Gustav Freytag, ist gut befreundet mit Moriz Haupt, Professor und Liebhaber alter Sprachen. Es sind, so weiß er in seinen „Erinnerungen“ zu berichten, Treffen unter Gleichgesinnten, „gern saß ich in der Abenddämmerung auf seinem alten Sopha mit ihm und seiner klugen Frau zusammen, zuweilen gelang es auch den ernsten, in sich gekehrten Mann zu geselliger Unterhaltung in eine stille Ecke zu verlocken“.

Die Treffen finden ab und an auch ohne Damenbegleitung an und das ist auch gut so. „Denn als wir einmal zu Leipzig […] allein bei einander saßen, offenbarte er mir im höchsten Vertrauen, dass in irgend einer westfälischen kleinen Stadt auf dem Boden eines alten Hauses die Reste einer Klosterbibliothek lägen. Es sei wohl möglich, daß darunter noch eine Handschrift verlorener Dekaden des Livius stecke. Der Herr dieser Schätze aber sei, wie er in Erfahrung gebracht, ein knurriger, ganz unzugänglicher Mann.“

„Darauf machte ich ihm den Vorschlag, dass wir zusammen nach dem geheimnisvollen Hause reisen und den alten Herrn rühren, verführen, im Notfall unter den Tisch trinken wollten, um den Schatz zu heben. Weil er nun zu meiner Verführungskunst bei gutem Getränk einiges Zutrauen hatte, so erklärte er sich damit einverstanden, und wir kosteten das Vergnügen, den Livius für die Nachwelt noch dicker zu machen, als er ohnedies schon ist, recht gewissenhaft und ausführlich durch.“

Auf einen Schlag sind alle Zutaten beisammen, die schon in der Gerüchteküche der vergangenen Jahrhunderte erfolgreich rumorten.

Aus der Nord-und Osteuropa-Connection wird eine Westfalen-Connection. Hier passt der grantige und übellaunige ältere Herr auch viel besser hin. Hinterland Westfälische Art. Ansonsten alles beim Alten. Eine ehemalige Klosterbibliothek, ein oller Dachboden, diffuse Geheimnisstimmung.

Allerdings klingen leise Zweifel an, ob man die verlorenen Dekaden des alten Knaster wirklich finden will. Nicht, dass der „Livius für die Nachwelt noch dicker“ wird! Ächz! Und überhaupt nimmt die Suche nach den vergessenen Scharteken auf dem Dachboden eine leicht bizarre Wendung an.

Neu ist der Alkohol. Ein guter Schoppen Wein, das löst die Zunge. Er ist nicht nur zum Vergnügen, sondern auch auf Abenteuerfahrten von Nutzen, dann nämlich, wenn es darum geht, Widersacher „unter den Tisch trinken“ zu können. Trinkfestigkeit gilt in Freytags Kreisen was, heißt dort „Verführungskunst bei gutem Getränk“. Wer trinkt, gewinnt.

Solch männliche Kraftmeierei geht natürlich nur, wenn die Frau nicht mit auf dem alten Sopha sitzt. Unter Alkoholeinfluss versteigen sich Männer dafür auch gleich zu fantastischen Plänen. Gehen auf weitläufige Reisen, ohne den Kneiptisch zu verlassen. Besoffen weniger am Wein, sondern vor allem an Begeisterung für sich selbst. Greifbare Ergebnisse bleiben aus. „Aus der Reise wurde nichts, aber die Erinnerung an jene beabsichtigte Fahrt hat der Handlung des Romans geholfen.“ Roman? Ja, wenn es schon keine Weltliteratur in echten Klöstern zu finden gibt, dann schreiben wir wenigstens einen Roman davon.

Fortsetzung folgt.


Verwendete Literatur

Johann Gottfried Seume: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802, Braunschweig/ Leipzig: Vieweg 1803, S. 107. Link zum Deutschen Textarchiv.

Morhof, Daniel Georg: De Patavinitate Liviana Liber, Kilonium 1685. https://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10217916-9, S. 7, 9 und 10.

Kirsch, Adam Friedrich: Abundantissimum Cornu Copiae Linguae Latinae Et Germanicae Selectum. – Leipzig, 1774, S. 2545.

Recherche zu den Amtsträgern mit Hilfe des Thesaurus professionum.

Gustav Freytag: Erinnerungen aus meinem Leben, Leipzig: Hirzel 1887. https://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb11573683-6. S. 234-235, S. 293-294

Abbildungen

Livius, Ab urbe condita libri XLI-XLV (unvollständig), Handschrift, Italien, 5. Jh., Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 15. Link zur Virtuellen Klosterbibliothek Lorsch. Österreichische Nationalbibliothek. Namensnennung – Nicht-kommerziell – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland (CC BY-NC-SA 3.0 DE)

Morhof, Daniel Georg: De Patavinitate Liviana Liber, Kilonium 1685. https://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10217916-9, S. 9 (scan 23) und S. 10 (scan 24). Kein Urheberschutz – Nur nicht-kommerzielle Nutzung erlaubt.

Römische Geschichte im Buchregal. Eigenes Archiv.


Gelehrter Anhang

Anno 1521 diem suum obiit D. Martinus Grönning Bremensis, Cantor illius Capituli, Vir doctissimus, qui Romae in Collegio Sapientiae publice praelegerat. is decades & libros Titi Livii deperditos MSCtos habebat, quos e Bibliotheca Drunthemensi e Norwagia, ubi hactenus latuerant, acceperat. Qua de re cum certiorem faceret Philippum Beroaldum, Pontificis Bibliothecarum primarum; ille rescripsit, ut libros illos secum Romam deportaret: se curaturum, ut ipsi e vestigio, preater sumptus itineris, mille aurei solverentur. Verum cum fatis interea concederet Martinus, Libri illi Livinani a pueris aliisque harum rerum ignaris discerpti perierunt. Dolendum sane praeclaros istos libros iterum deperdiditos in lucum edi non potuisse.