Was hat dich bloß so ruiniert? (Held im Hotel Mama 2)


Die zum Salon führende Tür stand auf, hinter der ich die Gäste, nur wenige, bereits versammelt sah. Ich wurde der Frau vom Hause vorgestellt, einer beinahe schönen Dame, der man sofort abfühlte, dass sie das Heft in Händen hielt und die Geschicke des Hauses, also wahrscheinlich auch die der dort ins Leben tretenden Literatur lenkte.

Theodor Fontane: Von Zwanzig bis Dreißig. Autobiographisches (1898)

Aufräumen

Aber warum wurde Gregor kein Gregor Spiderman? Warum traf er nie seine Dame mit dem Pelzhut?

Da ist ja noch Gregors Schwester. Sie hält den mutierten Gregor wie ein Haustier, will nichts von seinen Kletterkünsten wissen. Räumt ihm die Möbel weg statt ihn damit spielen zu lassen. Füttert ihn. Sperrt ihn endgültig weg. In den Hamsterkäfig im kleinbürgerlichen Spießerhaushalt. Wo soll sich Spiderman denn da noch langhangeln? Wo soll er das Spinnennetzewerfen üben? In der Welt seiner Schwester gibt es nur eklige Klebespuren auf der schönen Durchschnittstapete, „er hinterließ ja auch beim Kriechen hie und da Spuren seines Klebstoffes“. Wie wischen wir das nur wieder weg? Die gute Hausfrau, die sie werden will, weiß Rat. Auch wenn es manchmal schwer ist.

Und Gregor? Warum setzt Gregor nicht so was wie einen Spinnensinn ein? Er erspürt nur, was die Schwester will, lässt alles ihr zuliebe geschehen. Dabei ist er für sie nur eine Last. Spiderman muss man selbst sein wollen.

Sonst interessiert sich keiner für einen. Eltern und Schwester leben lieber ihr Spießerleben. Schließlich räumt ihre grobe Putzfrau „das Zeug von nebenan“, Gregor ist elendig in seinem Gefängnis verendet, einfach weg und die Familie kann weiter ihr Kleinbürgerglück leben. 

Gregor. „Zeug von nebenan“. Kein Spiderman. Und seine Black Cat? Bleibt nur das „Bild, das er vor kurzem aus einer illustrierten Zeitschrift ausgeschnitten und in einem hübschen, vergoldeten Rahmen untergebracht hatte“. Und landet auch auf dem Müll.

Bild, vor kurzem aus einer Illustrierten ausgeschnitten. Katalog von 1912.

Gregor in der neuen Welt

Kafka erfindet 1912 den ersten Superhelden, lange bevor Jerry Siegel und Joe Shuster 1933 beginnen, einen Comic mit einem Superman so konzipieren, dass sich dafür auch ein Verleger findet. Es klappt erst 1938, als in New York die ersten Comichefte produziert werden und die Verleger billiges Material brauchen, mit dem sie ihre Hefte füllen können.

Wie Kafka sind Siegel und Shuster Juden auf der Suche nach dem großen literarischen Erfolg. Aber Siegel und Shuster nicht mehr im alten Europa, in der Kulturstadt Prag, sondern ausgewandert in die neue Welt, um in New York ihr Glück zu machen. Und sein Glück macht man nicht mit Literatur, sondern mit Broschüren, Illustrierten, Heftchen. Die werden hier nicht hinter Glas mit Goldrand geklemmt, sondern in Millionenauflage für ganz kleines Geld in den Kiosken ausgelegt. Zeitvertreib, Zerstreuung, Unterhaltung für den Großstadtbewohner genauso wie den Amerikaner vom Lande, der sich seinen Träumen hingeben will. Für 10 Cent und für die Dauer der Lektüre eines einfachen Heftchens. Vom Fliegen, von übermenschlicher Kraft, vom Einsatz für das Gute. Das dann auch gewinnt.

Nur Kafkas Superheld erstickt in den Regeln des alten Europas. Den Träumen vom kleinen Glück in den sicheren Bahnen des bürgerlichen Lebens. Er näht sich kein Zirkuskostüm mit großem S drauf. Er probiert nicht aus, was man mit dem Klebstoff alles für Kunststücke machen könnte.

Kafkas Superheld erscheint als Buch, ehrwürdige Literatur. Kafka macht genaue Angaben zum Buchcover: „Das Insekt selbst kann nicht gezeichnet werden. es kann aber nicht einmal von der Ferne aus gezeigt werden.“ In seiner Lieblingsfassung sieht man „die Eltern und die Schwester im beleuchteten Zimmer, während die Tür zum ganz finsteren Nebenzimmer offensteht“ (Brief Kafkas an seinen Verleger Kurt Wolff vom 25.10.1915). Auf dem Buchcover sieht man ganz passend links einen Mann, der sich im namenlosen Schrecken das Gesicht mit seinen Händen verdeckt. Rechts hinten die geöffnete die Tür, die den Blick in tiefes Schwarz freigibt. Dahinter darf man Gregor Käfermann nur vermuten. Zensiert. Kein Bild vom Mutanten.

Siegel und Shuster präsentieren ihren Superman auf dem Cover eines 10-Cent-Heftchens, groß und in Farbe, in einem rot-blauen Kostüm mit großem gelben S hebt er ein Auto hoch. Zugleich verdoppelt das Heftchen-Cover von „Action Comics“ Nr. 1, in dem dieser Superman seinen ersten Auftritt hat, Kafkas Szene. Links vorne wieder das Entsetzen, Hände im Gesicht, ein Mann im Anzug läuft weg. Und rechts hinten das Ungeheurliche, nie Gesehene, das Geheimnis, über das man hätte schweigen können: Superman im Zirkuskostüm, kraftmeiernd Autos stemmend. In Farbe und hell ausgeleuchtet. Superman versteckt sich nicht mehr. Er steht zu seinem Außerirdisch-Sein. Er handelt nicht mehr mit Tuchwaren anderer Leute, er hat sich selbst ein cooles Outfit geschneidert. Seht nur her! Hier kommt Superman!

Kafka sieht seine Verwandlung als Enthüllungsbuch, eine „Indiskretion“, ein Sprechen „über die Wanzen der eigenen Familie“ (Gespräch zwischen Kafka und Gustav Janouch). Eine schmutzige Fantasie, über die man nur hinter vorgehaltener Hand spricht. Abwege. Sackgassen. Gefahren, vor der die bürgerliche Existenz steht. Das haben Siegel und Shuster nicht mehr nötig. Hier ist Superman. Larger than life. Vierfarbig. Irgendwie eine Broschüre, aber irgendwie auch nicht. Der Retter, auf den die Welt gewartet hat.

Wer ist hier die Scharteke?

Ist am Ende vielleicht eher Kafkas schmales Bändchen Literatur die Scharteke, aus der sich erst noch Großes entwickeln musste?

Dein Start ins Abenteuer: Kafka-Heftchen von reclam.

Na ja. Tatsächlich lese ich Kafka in einem handlichen, schmucklosen Reclam-Bändchen. Extra preisgünstig. Mit vielen Infos weiter hinten zum Making-of. Und irgendwie auch schwach von Kafka, lieber ein schwarzes Loch auf dem Cover zeichnen zu lassen als einen neuartigen Käfersuperhelden. Man wird das Gefühl nicht los, dass er selbst auch so ein Gregor Samsa ist, der Bilder aus der Illustrierten ausschneidet und im goldenen Rahmen einsperrt, statt sich auf die Suche nach der Traumfrau zu machen.

Aber: Was schwarz bleibt, lässt der Fantasie den Raum. Es gibt für Kafka nicht nur den einen Superman, nicht nur den einen Spiderman. Hinter der Tür lauert irgendwas. Wenn es um Superhelden geht, werden der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Mal es Dir aus! Mal Dir selbst aus, was sich im Dunkel verbirgt. Und nirgendwo bei Kafka steht geschrieben, dass man es dann so machen muss wie Gregor Samsa. Ganz im Gegenteil: Mach aus Deiner dunklen Fantasie doch einfach einen Supermann. Der rausgeht in die Welt. Der eine Kräfte für die Menschheit einsetzt. Jetzt endlich einen echten Gregor Samsa Superman.

Und das geht nur mit Kafka.


Verwendete Literatur

Franz Kafka, Die Verwandlung, Leipzig; Wolff 1915. urn:nbn:de:bvb:12-bsb00087391-2

Fontane, Theodor: Von Zwanzig bis Dreißig. Autobiographisches, 1. Aufl. Berlin, 1898, S 133. Link zum Deutschen Textarchiv.

Abbildungsnachweise

Bild, aus einer Illustrierten ausgeschnitten. Link zu Wikipedia. Creative Commons License: Public Domain Mark 1.0.

Kafka-Heftchen. Eigenes Archiv.