Physiologus 2: Adler


De aquila (Physiologus B 8)

1. Physiologus dicit aquilam talem habere naturam:

2. Cum senuerit1, gravantur2 alae3 eius, et obducuntur4 oculi eius caligine5.

3. Tunc quaerit fontem aquae, et contra6 eum fontem evolat7 in altum usque ad aerem solis8.

4. Et ibi incendit alas suas, et caliginem oculorum comburit9 de radio solis10.

5. Tunc demum descendens ad fontem trina vice11 se mergit12, et statim renovatur13 tota, ita ut alarum vigore14 et oculorum splendore15 multum melius16 renovetur.


Worterklärungen

  1. senescere, senesco, senui – alt werden ↩︎
  2. gravari, gravor – schwer werden ↩︎
  3. ala – Flügel ↩︎
  4. obducere, obduco – verdecken ↩︎
  5. caligo, caliginis f. – Dunkelheit, Schleier ↩︎
  6. contra (m. Akk.) – hier: von … weg ↩︎
  7. evolare, evolo – fliegen ↩︎
  8. aer solis – der Bereich um die Sonne ↩︎
  9. comburere, cumburo – ausbrennen ↩︎
  10. radius solis – Sonnenstrahl ↩︎
  11. trina vice – dreimal ↩︎
  12. se mergere, mergo – eintauchen ↩︎
  13. renovare, renovo – wiederherstellen ↩︎
  14. vigor, vigoris m. – Kraft ↩︎
  15. splendor, splendoris m. – Glanz ↩︎
  16. melius – besser ↩︎

Die allegorische Deutung

Der Text, den Du übersetzt hast, ist nicht vollständig, sondern wird im lateinischen Original von einer allegorischen Deutung gerahmt.

Über den Adler sagt David im 102ten Psalm: „Du wirst wieder jung wie ein Adler“ [Psalm 103.5].

Also suche auch du, Mensch, der du ein altes Gewand trägst, wenn die Augen deines Herzens blind werden, die geistige Quelle des Herrn, der sagt: „Wenn jemand nicht geboren wird aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen“ [Johannes 3.5]. Wenn du nicht getauft bist auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes und die Augen deines Herzens zu Gott erhebst, der die Sonne der Gerechtigkeit ist, wirst du nicht wieder jung wie ein Adler.

2. Was wissen wir heute?

Recherchiere, was wir heute über das Verhalten des Adlers wissen und welche Erklärungen unsere Naturwissenschaften dafür geben:

  • Gibt es das Verhalten überhaupt, von dem der „Physiologus“ berichtet? Gibt es zumindest etwas Ähnliches?
  • Welche Erklärung hat die Biologie für dieses Verhaltensmuster?
  • Wie sind die Menschen in der Antike wohl zu ihren Beobachtungen gekommen? Welche Idee oder Überlegung steckt dahinter?

Abbildungsnachweis

Tractatus de naturis animalium in XX libros divisus, quorum tres extremi desunt – BSB Clm 6908 („Fürstenfelder Physiologus“). S. 83r, Scan 171. Link zur Bayerischen Staatsbibliothek. Creative Commons 4.0.