Ganghofer: Die Martinsklause. Beängstigende Kontinuitäten


Ganghofer: Die Martinsklause

Beängstigende Kontinuitäten

Endlich richtige Gottversucher! „Die Martinsklause“, 1894, zuerst in der „Gartenlaube“, dann als Doppelband, schön illustriert von A. F. Seligmann.

Es geht wieder los mit einem staunenden Wanderer, passenderweise gleichzeitig ein geistlicher Herr, der gerne Bücher liest und Heiden bekehrt. Propst Eberwein, so heißt er, wird vom kundigen Einheimischen informiert, über das Berchtesgadener Land, wo er ein Kloster gründen soll. Sofort bekommt er zwei, seit Hillern bekannte Probleme: 1. Die Kontinuität des Heidentums. Sein Informant, Eigel, der Kohlmann, plaudert munter nordisch-germanischen Aberglauben daher. 2. Eine Frau auf Geierjagd. Nicht direkt den Abhang hinunter, wie die „Geier-Wally“, aber als Jägerin hoch zu Ross, die ihr Ziel genauso wenig verfehlt. Keine Frage, eine Gottversucherin!

Gottversucher Nr. 2 kommt etwas später ins Spiel. Ein verzweifelter Geistlicher, na wo wohl, am Abhang, am Wildbach. Er erzwingt das Gottesurteil, das Jesus am Tempelberg schlau zurückweist, und stürzt sich in die Fluten.

Am Schluss wieder eine Überraschung, wie bei Hillern: Kontinuität des Heidentums! Ausgerechnet beim Propst Eberwein, der sich scheinbar erfolgreich gegen den alten lokalen Machthaber, den grausamen Herr Waze durchgesetzt hat. Der den Berchtesgadener das Heidentum austreiben will. Eberwein ist ein Findelkind, und nur wir Leser entschlüsseln am Ende das Geheimnis seiner Herkunft.

Gottversucherin Nr. 1: Recka.

Eberwein, vom Orden des heiligen Augustinus, ist mit Kohlmann Eigel auf dem Untersberg unterwegs. Von dort lässt er sich das Berchtesgadener Land zeigen. Eigel weiß genau, wer unter ihnen in den Höhlen wohnt: König Wute.

„Und da drinnen haust mit seinen tausend Helden der König Wute. Der hat nur ein einzig Aug‘ und sitzt an einem steinernen Tisch und kann nicht aufstehen, denn sein langer Bart ist zweimal um den Tisch gewachsen. All‘ hundert Jahr‘ schickt er von seinen Helden einen hinauf in die Welt, und wenn der heimkehrt, fragt ihn der König: ‚Fliegen die Raben noch allweil um den Berg?‘“ Und wenn das so ist, „muß ich noch schlafen hundert Jahr‘!“ Wenn er aber aus dem Berg kommen kann, da ist sich Eigel sicher, „dann wird die gute Zeit wieder anheben für uns arme Leut‘ … und keiner wird ein Herr sein und keiner ein Knecht.“

Eberwein ist schockiert: „Eigel, Du bist kein Christ!“ Du hängst, so will es Ganghofer, der nordisch-germanischen Mythologie an. Dafür erlaubt er sich ein bisschen Freiheit mit der Sagensammlung. Bei Ludwig Bechstein schlafen zwar alle möglichen Könige im Untersberg, aber nicht der Gott Wotan. Macht sich aber besser, wenn man heidnischen Götterglauben darstellen will.

Nordisch-mythologisch geht es weiter. Jetzt brauchen wir den Bartgeier auf Raubzug. Und die wild-schöne, unabhängige Frau, die Jagd auf ihn macht. Wie bei der „Geier-Wally“ halt.

„Ein mächtiger Bartgeier schwebte langsam, mit klatschendem Flügelschlag, über die Büsche hin; das zappelnde Gemskitz, das er in den Fängen hielt und hinwegschleifte über die schwankenden Äste, erschwerte seinen Flug.“ „Da tauchte unter den Büschen am Saum des Almfeldes eine Reiterin auf; rötliches Haar umflatterte den Nacken; das jagende Roß schien nur ihrem Rufe zu gehorchen, denn sie führte keinen Zügel, sondern hielt in erhobenene Armen den gespannten Bogen mit aufgelegtem Pfeil. Nun plötzlich stand das Roß, einen Augenblick erschien die Gestalt des jungen schönen Weibes regungslos, wie aus Erz gegossen – dann schwirrte mit hellem Klang die Bogensehne.“

Der Flitzebogen trifft. Die Rothaarige, statuenhaft schön, zügellos auf dem Pferd, versteht sich auf das Jägerhandwerk. Irgendwie dämonisch. Was war denn das? Kohlmann Eigel ist – natürlich – informiert, und hält die nordische Götterwelt parat:

Die rote Recka war es, Wazemanns Tochter. Sieben Söhn‘ hat er und diese einzige Dirn. Aber die Leut‘ sagen, sie wär‘ kein richtiges Menschenkind. Ihr Vater ist freilich ein Mensch … und was für einer! Aber ihre Mutter wär‘ eine Alfin gewesen! Und ich glaub’s auch! Denn die Dirn hat Feuer und Luft im Blut! Wie verwachsen ist sie mit ihrem Roß. Für die ist kein Wald zu schiech und kein Berg zu hoch, überall kommt sie hin, als hätt‘ sie Flügel am Leib wie eine Walmaid!

Ganghofer bietet gleich mehrere Anspielungen auf altnordische Mythen auf. Damit klar wird, wie stark der Heidenglauben bei den Einheimischen ist, gegen den Eberwein angehen muss. Reckas Mutter eine Alfin, ein Waldgeist wie der Edelweißkönig. Sie selbst eine Wa(h)lmaid. Heißt: Eine Walküre, die Männer in der Schlacht begleitet, mit Flügeln ausgestattet und auf Pferden unterwegs. Das Kunstwort hat Ganghofer aus zeitgenössischen Übersetzungen der Edda, von Karl Simrock oder Ludwig Ettmüller. Klingt gut. Vor allem wird der Wildfang Recka verrätselt und dämonisiert. Eigentlich reitet sie bloß gerne und gut. Die anderen dichten ihr deswegen gleich Flügel an. Wie sollte sie sonst so beweglich sein? Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu!

Recka hat noch einen zweiten großen Auftritt. Diesmal ist es endgültig zuviel, auch für Christ Eberwein. Recka steht am Abhang, wieder mal, und treibt ihr Pferd zum Sprung:

Hoch droben, am Rande einer Felsplatte, welche sich über das tief abfallende Geklüft hinausstreckte, sah er ein Pferd erscheinen – den Rappen, der die rote Recka trug. Das Pferd scheute vor dem Absturz und warf die Nüstern auf, aber ein Rutenhieb zwang es zum Sprung. Mit eingezogenen Hufen flog es über den Abgrund hinweg, auf ihm das Mädchen mit erhobenem Arm, das Haupt vom offenen Haar umflattert wie von einem roten Schleier. Noch im Sprung verschwanden Pferd und Reiterin hinter dichtem Gebüsch. Steine kamen in die Schlucht herabgerollt, und ihr Aufschlag übertönte das Rauschen des Wassers.

Eigel, nordisch-mythologisch: „Jetzt, Herr, sag‘ selber … hat die da droben Flügel oder nicht?“ Eberwein, christlich: „Flügel nicht, aber einen frevlen Sinn, welcher Gott versucht.“

Da ist es! Recka ist eine Gottversucherin! Anders als bei Wally, gibt es für sie kein Pardon in der „Martinsklause“. Am Ende des Romans sagt sie sich los von ihrer wüsten Familie. Doch Erdbeben und Steinschlag, die losbrechen, vernichten sie genauso wie den Rest ihrer Familie. In der neuen, christlichen Welt ist kein Platz für Leute, die Gott versuchen. Vater wie Tochter gehen unter, Waze ist eine Last, die Recka nicht abschütteln kann. Und Ganghofer wiederholt, was schon im „Edelweißkönig“ die neue Regel war: Wildfang ja, aber nur gezähmt.

Das heißt nicht, dass Eberwein nicht fasziniert und verwirrt wäre, als er sie das zweite Mal sieht. Was für eine Frau! Die lässt sich von niemandem was sagen. Das bringt auch den frömmsten Mönch durcheinander. Glücklicherweise hat Eberwein einen römischen Klassiker dabei. Nim und lies. Bücher spenden Trost.

Eberwein zog das kleine Büchlein aus der Tasche; die pergamentenen Blätter waren mit zierlicher Schrift und winzigen Malereien bedeckt. Dieses Büchlein war sein Trost in ernsten und schweren Stunden. Es hatte ihm gar oft schon den Sturm der Seele beschworen. Ob ihm sein Freund Horazius wohl auch jetzt die Erregung lösen würde, die all sein Wesen erfüllte! Aufs Geratewohl schlug er das Büchlein auf und begann zu lesen.

Eberweins geheimer Lektüreschatz enthält die Oden des klassisch-römischen Dichters Horaz. Und der bietet ihm Stütze und Antwort in jedem Seelensturm, egal wo Du ihn aufschlägst: „Wer gerecht ist und zu dem steht, was er sich vorgenommen hat, den kann nichts in seinem festen Plan erschüttern, weder wutentbrannte Mitbürger, die wirres Zeug befehlen, noch die Blicke eines drohenden Tyrannen“. Eberwein liest natürlich auf Latein, Ganghofer lässt es einfach so stehen, Originallatein für den christlich-mittelalterlichen Sound: „Iustum et tenacem propositi virum/ Non civium ardor prava iubentium/ Non vultus instantis tyranni/ Mente quatit solida“ (Horaz, Oden 3,3, V. 1-4).

Solchermaßen gestärkt hält Eberwein Recka bald darauf eine Predigt. Ihr dritter Auftritt ist nicht mehr ganz so heroisch. Hoch zu Ross, mit wehendem roten Haar, hört sie ungläubig mit an, dass die Zeiten von Herrn Wazes Herrschaft gezählt sein sollen, ab jetzt Mönche im Kloster für Ordnung sorgen werden. Sie spottet, ganz des Vaters Tochter. Was für ein Kloster? Das kriegt ihr niemals gebaut! Gottversucherin. Dem Untergang geweiht. Ihr werdet schon sehen.

Gottversucher Nr. 2: Hiltischalk

So ergeht es auch dem zweiten Gottversucher im Roman, ausgerechnet einem Priester. Im Berchtesgadener Land gibt es nämlich einen, schon seit langer Zeit, den Leutpriester Hiltischalk, und Propst Eberwein besucht ihn freudig. Treu an der Seite des alten Hiltischalk steht Hiltidiu. Eberwein hält sie für die Magd des Hauses, oder die Schwester. Als er erfährt, dass die beiden verheiratet sind, zuckt er zusammen. Vom Zölibat, das schon seit vierzig Jahren gilt, haben sie hier im Hinterwald noch nie etwas gehört. Eberwein erklärt, was der Papst mal beschlossen hat, Hiltischalk mag es nicht glauben. Er sucht in seinem Schrifttum, vergeblich. Seine Bibel und sein Messbuch haben die Mäuse zerfressen, seit Jahren schon liest er die Messe aus dem Gedächtnis.

Eberwein ist hin und her gerissen, „sein reines, menschliches Empfinden und Erbarmen auf der einen Seite, auf der anderen die beschworene Pflicht seines kirchlichen Amtes.“ Es bleibt dem eifernden Pater Waldram aus Eberweins Mönchstruppe überlassen, die verbotene Leutpriesterehe öffentlich als Sünde zu bloßzustellen. Waldram bringt die ganze Gemeinde gegen Hiltischalk auf. Das ist zu viel für den alten Mann.

Ein Gottesurteil muss her, meint Hiltschalk, exakt an der Stelle, wo ihn Gott vor vielen Jahrzehnten aus höchster Gefahr gerettet hat. Es ist natürlich ein Abhang am Wildbach: an der Windachklamm, dem reißenden Fluß, der vom Bergmassiv König Eismann aus abwärts fließt. Kalt und lebensfeindlich, ist das nicht Warnung genug?

„Hoch über dem Geklüft der Windach, wo nah dem Absturz zwischen Felsen und Gestrüpp ein Almensteig emporführte gegen den König Eismann, rangen zwei Menschen miteinander. Ihre lauten Stimmen mischten sich, ihre schwarzen Gewänder und ihre weißen Haare flatterten in dem eisigen Luftstrom, der dem Sturz der Windach talwärts folgte.“ „Hiltidiu lag auf den Knieen vor Hiltischalk und hielt ihn umklammert mit ihren dürren Armen“, „Hiltischalks Augen glühten wie im Wahnsinn, und schrill und heiser klang seine Stimme.“

Hiltischalk ruft Gott auf gegen den Pater Waldram. Der soll ihn widerlegen. Aber man stellt Gott nicht auf die Probe. Hilti weiß das ganz genau: „Ja bist denn du ein anderer geworden! Du, der allzeit Gute, der allzeit Fromme … du willst Gott versuchen und dich versündigen an ihm?“ Sie kennt noch ihre Bibel, kennt die Geschichte von Jesus am Tempelturm. Du darfst nicht hören auf den Teufel, der dich verführt und sagt: Du kannst dich ruhig fallen lassen. Probier doch mal aus, ob Gott dich schützt und seine Engel schickt. Alles vergebens. Hiltischalk will genau das, ein Handeln Gottes erzwingen: „Ein Urtel muß ich haben! Wissen muß ich, ob ich fromm gelebt hab‘ oder ein Verfluchter bin, ob ich Gott gedient hab‘ oder der Höll‘!“ Gott muss gar nichts. Wer ein Urteil haben will, ist ein Gottversucher.

Dann der Absturz: „Er riß sich los und taumelte zum Rand der Felsen.“ „Und mit ausgebreiteten Armen, brennenden Blicks die grau verschleierte Höhe suchend, trat er hinaus ins Leere. Unter herzzerreißendem Schrei hatte Hiltidiu sich aufgerafft und wankte ihm nach mit brechenden Knieen. Ihre Hände haschten noch sein flatterndes Gewand, sie wollte nicht lassen von ihm und stürzte, von seinem Fall gezogen, mit ihm hinunter in die dunkel gähnende Tiefe …“

Übrig bleibt nur das Murmeln und Schäumen des Wassers, wie immer. „Dumpf rauschte die Windach, ihre grauen Wasserdämpfe stiegen auf, und in der Tiefe rollten ihre Wellen den immer gleichen Weg, die fallenden Steine verschlingend, den weichenden Erdgrund fressend und alles Wachstum mordend, das ihr zu nahe kam.“

„Ein Urteil war gefallen, und es lautete, wie Hiltischalk gehofft: nun war er ledig aller Not und Schmerzen und war vereint mit seinem Weib für alle Zeiten.“ Auch hier: Kein Pardon für Gottversucher, keine Kompromisse mehr mit der christlichen Lehre. Verheiratete Leutpriester, die die Messe aus dem Gedächtnis lesen. Das geht nicht mehr. Mit den Mönchen kommt die strenge christliche Ordnung. Noch vor Waze und seiner Familie, die König Eismanns Einsturz unter sich begräbt, erwischt es daher Hiltischalk und Hiltidiu, an der Windach, einem Wildbach, den das Erdbeben ebenfalls zuschütten wird.

Eberwein, ein Heidenkind.

Nichts bleibt mehr übrig von der heidnischen Welt, weder die nordische Mythologie, noch die selbsternannten Herrscher. Auch kein ahnungslos-fahrlässiger Leutpriester. Sogar die Bergwelt passt sich an, aus König Eismann wird der Watzmann. Mit den Mönchen kommt das Kloster und die christliche Ordnung, papstgetreu und auf dem neusten Stand.

Nicht ganz. Denn am Ende der „Martinsklause“ steht die altbekannte Pointe, die den seit der „Geier-Wally“ bekannten Verdacht aufkommen lässt: Das Heidentum bleibt bestehen, aller kirchlicher Bekehrung zum Trotz. Das liegt ausgerechnet an Eberwein, dem Findelkind.

Ganghofer konstruiert eine abenteuerliche Indizienkette, in deren Mittelpunkt ein in zwei Teile zerbrochener Armreif aus Tierknochen steht. Die Hinweise zusammensetzen können nur die Leser. Wem gehörte der Armreif? Warum zerbricht er? Bei wem landen die zwei Teile? Und vor allem: Was bedeutet das für Eberweins Herkunft?

Der Armreif zerbricht. Herr Waze lässt in jungen Jahren, so erfahren wir in einem Rückblick, die schöne Salmued, die Kohlmann Eigel heiraten wollte, entführen, um sie sich als Geliebte auf seiner Burg zu halten. Als er genug von ihr hat, beauftragt er einen fahrenden Händler: „Hundert Denar‘ hast du genommen: einen für jede Wegstund‘, die du legen sollst zwischen mich und die Narrendirn‘! Fort mir ihr!“ Gefesselt ist Salmued schon, aber bevor ihr der Händler und seine Knechte den Knebel anlegen können, verflucht sie Herrn Waze: „Einer wird noch kommen über dich … der soll vergelten, was du an mir gethan!“

Ausgerechnet jetzt kommt Friderun, Wazes Gattin, hinzu. „Es klirrte vor ihren Füßen; unter der wilden Kraft, mit welcher die Gefesselte sich wehrte und im Ringen alle Muskeln spannte, war der beinerne Reif zersprungen, den sie am nackten Arm getragen“. Die eine Hälfte bleibt bei Salmued, „die andere Hälfte war klirrend über die Steine gehüpft, bis vor die Füße des bleichen Weibes.“ Friderun bewahrt ihren Reifteil, als Erinnerung an Wazes Untreue, und legt ihn zu ihrem Schmuck.

Die Geschichte von Reifteil 1. Recka erbt den Schmuck ihrer Mutter. Die Herkunft des Beinreifs und die Bedeutung der „halb verwischten Runenzeichen auf der Innenfläche“ sind ihr nicht bekannt. Eine Freundin weiß, dass es sich um einen heidnischen „Fluchzahn aus eines wütigen Wolfs Gebiß“ handelt und die eingeritzten „Hel-Zeichen“ Schaden abwenden sollen. Für Recka bleibt es ein Andenken. Als Waze und seine Jungs gegen die Mönche und ihre Unterstützer losziehen, sperren sie Recka in ihrer Kammer ein. Vergeblich. Sie flieht mit Schwung durch das Fenster, vom Tisch aus. „Sie sah nicht, daß von dem wankenden Tischlein der kleine Schrein mit dem Geschmeid ihre Mutter zu Boden stürzte – sie sprang.“ Die Schatulle geht zu Bruch, „und aus dem schimmernden Geschmeide hüpfte der halbe Beinreif der Salmued heraus und kollerte über den Estrich gegen die Thüre.“

Die Geschichte von Reifteil 2. Eberwein lässt die Frage seiner Herkunft keine Ruhe und er besucht von seinem Heimatkloster aus noch einmal den Fischer, der ihn als Säugling gerettet hat. Der berichtet, dass er nicht nur den Säugling, sondern auch ganz in der Nähe den Leichnam seiner Mutter und ein „wertloses Stück Geschmeide“ gefunden hat. Er gibt es Eberwein, der trägt seitdem „das ungelöste Räthsel seiner Herkunft unter der Kutte verwahrt“, „mit dem Zeichen seiner priesterlichen Weihe, dem Kreuz zusammen an eine Schnur gebunden.“

Die Reifteile werden zusammengesetzt. Ganz am Schluss des Romans, Waze ist längst besiegt, besucht Eberwein die Ruine seiner ausgebrannten Burg. Inmitten der Trümmer findet er Reifteil 1 aus Reckas Geschmeideschrein. „Auf das Räthsel starrend, das er aus dem Staub gehoben, griff er mit der andern Hand an seine Brust“, reißt und zerrt am Band, „bis das Bein sich löste. Nun hielt er das eine Stück in der rechten, das andere in der linken Hand, und seine verstörten Blicke glitten ratlos hin und her.“ Er setzt sie zusammen und studiert die Zeichen. „Die eine Hälfte, die er an der Brust getragen, war festes Bein, nur braun vor Alter, mit Runenzeichen auf der Innenseite – die andere war morsch und grau, zernagt vom Moder, daß auf der Innenseite kaum die Spur eines Zeichens sich erkennen ließ.“ Kann das ein Zufall sein?

Natürlich, das weiß der aufmerksame Leser, gehören die beiden Reifteile zusammen. Eberwein kann bloß Fragen stellen: „Waren sie die Hälften eines Ganzen? Wie wurden sie getrennt? Wie kam die eine auf die Romstraße im Garmischgau, die andere in hundertstündiger Ferne hierher unter die Asche von Wazemanns Haus? Und als sie noch ein Ganzes waren, wem gehörte der beinerne Reif?“ Die Antwort kennen wir: Eberwein ist das uneheliche Kind von Salmued und Waze. Dass der die werdende Mutter hundert Wegstunden wegfahren ließ, hat nichts genützt. Ja, will man es abergläubisch sehen, hat sich sogar ihr Fluch erfüllt. Tatsächlich ist einer gekommen, der sich für sie an Wazemann rächt: Haben Eberwein und seine Mönche nicht der Unrechtsherrschaft ein Ende gemacht?

Beängstigend ist jedoch die Kontinuität. Der neue, christliche Herrscher, Propst Eberwein als Gründer des Klosters, stammt aus derselben Familie wie der alte, weltliche Tyrann Herr Waze.

Und es kommt noch schlimmer. Was macht Eberwein, konfrontiert mit dem Rätsel? Er hat keine Lust mehr auf „die alte Qual, die alte ziellose Sehnsucht“ nach einer richtigen Familie. „Er eilte der Mauer zu, und aus beiden Händen schleuderte er die Hälften des Ringes hinunter in die Tiefe.“ Eberwein, der doch vorher die ganze Zeit Fragen gestellt hat, nicht lockerlassen wollte, entscheidet sich für das Nichtwissen und gegen weitere Nachforschungen. Ziemlich ignorant. Als Propst im Kloster, so sagt er sich, kümmert er sich doch um alle Menschen, sie sind jetzt seine Familie. Aber irgendwie kommt das wie eine selbtgerechte Ausrede daher. Wer nicht weiterfragt, welche Verbindung zwischen Waze und ihm selbst besteht, läuft Gefahr, die alten Fehler zu wiederholen.

Und beunruhigende Hinweise auf das väterliche Temperament bestehen durchaus. Und zwar schon bei der ersten direkten Begegnung von Eberwein und Waze. Von, wie wir am Ende wissen, Vater und Sohn. Woher kommt der Zorn, die Unbeherrschtheit? Der ach so friedliche Eberwein, der plötzlich Tische umschmeißt? Laut brüllt „mit schrillendem Hall“? Dabei wirkt wie Waze selbst? Die acht übrigen Söhne merken es sofort, „starrten auf die Lippen des Mönches – er war es doch gewesen, der diese Worte geschrieen, und dennoch schien es ihnen, als hätten sie ihren Vater gehört. So klang seine Stimme im Zorn.“ Wie der Vater, so der Sohn. Ein bisschen mehr Seelenforschung täte da schon ganz gut.

Von Selbstkritik keine Spur bei Eberwein. Stattdessen, wie gehabt, beängstigende Kontinuitäten. Warum sollte Ganghofer das bewährte Rezept ändern? Es hat ja schon bei der „Geier-Wally“ gut funktioniert.

Verwendete Literatur

Ganghofer, Ludwig: Die Martinsklause. Roman aus dem Anfang des 12. Jahrhunderts. Illustriert von A. F. Seligmann. Stuttgart: Bonz & Co. 1897. Public Domain 1.0
Bd. 1, Siebente Auflage. Link zur Bayerischen Staatsbibliothek.
Bd. 2, Sechste Auflage. Link zur Bayerischen Staatsbibliothek.

I,6-8 König Wute im Untersberg
I,29-30 Recka auf Geierjagd
I,32 Eigel hält Recka für eine Alfin
I,46 Recka als Gottversucherin
I,47 Eberwein liest im Horaz
I,57-61 Eberwein predigt vor Recka
I,113-115 Eberwein rastet aus und klingt wie Waze
I,359 und 361 Runen und Hel-Zeichen auf dem Armreif
II,38 Eberwein zu Besuch bei Hiltischalk und seiner Frau
II,87-88 Salmueds Fluch und der zerbrochene Armreif
II,189-193 Hiltischalk als Gottversucher
II,234-235 Eberwein bekommt vom Fischer Ostalar den Reifteil 2
II,338 Reifteil 1 fällt aus der Schatulle
II,385-386 Recka und Sigenot versöhnen sich, Erdbeben
II, 394 Reifteil 2 wird vom sterbenden Eigel als Besitz der Salmued erkannt
II, 549-552 Eberwein setzt die Reifteile zusammen

Abbildungsverzeichnis

Die Martinsklause : Roman aus dem Anfang des 12. Jahrhunderts von Ludwig Ganghofer. Illustriert von A. F. Seligmann. Stuttgart: Bonz & Co. 1897. Public Domain 1.0
Bd. 1, Siebente Auflage. Link zur Bayerischen Staatsbibliothek.
Bd. 2, Sechste Auflage. Link zur Bayerischen Staatsbibliothek.

Martinsklause I, S. 6 scan 16: Eigel über König Wute
Martinsklause I, S. 31 scan 41, Recka bei der Geierjagd
Martinsklause I, S. 59 scan 69, Recka und Eberwein
Martinsklause II, S. 27, scan 39, Hiltischalk und seine Frau Hiltidiu
Martinsklause II, S. 89, scan 101, Reifteil 1 gerade zerbrochen
Martinsklause II, S. 114, scan 126, Eberwein ruft Wazes Söhne zur Ordnung
Martinsklause II, S. 191, scan 203, Gottesurteil für Hiltischalk
Martinsklause II, S. 338, scan 350 Reifteil 1 kollert aus dem Geschmeideschrein
Martinsklause II, S. 552, scan 564 Reifteile vereint auf dem Grund des Sees