Ganghofer: Schloss Hubertus. Der vernagelte Alte


Ganghofer, Schloss Hubertus

Der vernagelte Alte

In „Schloss Hubertus“ (1895) erwartet uns der schlimmste Gottversucher von allen. Kein Tell mehr, der zum Tyrannenmord gezwungen wird, keine Wally, die ihr hartherziger Vater zu wagemutigen Klettereien treibt. Dieser Gottversucher ist Gessler und Stromminger in einer Person, und er macht das mit dem Gottversuchen alles selbst. Ein neuer Typ: der vernagelte Alte. Unfähig zur Selbstkritik, jähzornig, ein unkontrollierter Wüterich. Wie Waze, wenn er tobt und ausrastet. Und wie Eberwein, wenn er nicht mehr fragen will. Nur noch viel viel mehr davon.

Adler als Haustiere

Wir erinnern uns: Wie und warum werden eigentlich Adlernester ausgehoben?

  • Anna Knittel sammelt den Jungadler ein, weil die Vögel Lämmer und andere Nutztiere reißen. Der Adler wird auswärts an den Zoo verkauft. Familie und Freunde unterstützen sie, sie wird am Seil herabgelassen, weil sie es sich zutraut. So macht man das in Tirol.
  • Die Geier-Wally lässt sich den Abhang herunterseilen und zieht den Geier aus dem Nest, weil sie übermütig ist, nur so ihren Vater beeindrucken kann. Sie ist ein Tomboy, eine Außenseiterin, die Jungs haben Angst vor ihr. Der Geier wird ihr Freund und Haustier. So wird es ein BestselIer.

Auftritt Graf Egge, Besitzer von „Schloss Hubertus“. Ganghofer übersteigert das bekannte Motiv vom Adlernest am Abhang, in jeder Hinsicht. Von der Tiroler Wirklichkeit ist nichts mehr übrig, und auch die Geier-Wally wirkt im Vergleich ziemlich harmlos.

Graf Egge hält sich gleich sieben Adler als Haustiere, in einem Käfig am Schloss, wie in einem Privatzoo. Er lockt Adler extra in seinem Jagdrevier an, denn er hofft auf Nachschub für seine Käfighaltung. Ob dafür das ein oder andere Wildtier sein Leben verliert, ist ihm ganz egal. Und als beim Ausheben des Adlerhorstes die übliche Seiltechnik versagt, versucht er’s mit Leitern, die wackeln und schaukeln. Hilfe von anderen? Für seine vier Kinder interessiert er sich nicht, mit zwei Söhnen liegt er in handfestem Streit. Hilfe bekommt er von zwei Jägern in seinem Dienst und den Holzknechten. Die werden für Gehorsam bezahlt und mucken nicht. Selbst wenn mit dem Grafen das Jagdfieber durchgeht und er sich selbst überschätzt, Widerworte gibt da keiner.

Und all das im typischen Ganghofer-Sound.

Der Graf wohnt im herrschaftlichen Schloss, eine prächtige Ulmenallee mit Rosenbeeten führt dorthin. Dort lauert der erste Schocker: „Inmitten der Allee weitete sich ein großes Kiesrondell, auf dem sich ein mächtiger, aus Eisenstangen und grobem Drahtgeflecht gebildeter Käfig erhob. Er barg die sieben Steinadler, die Graf Egge im Laufe mehrerer Jahre als halbflügge Vögel aus ihren Nestern gehoben.“ Wenn man vorbeigeht, setzt „ein grauenhafter Spektakel“ ein, „fauchend und mit gellenden Schreien warfen sie sich gegen das Drahtgeflecht und rüttelten an ihrem Kerker; unter dem Klatschen der Flügelschläge hörte man das Knirschen des Drahtes, wenn die scharfen Fänge in das Flechtwerk griffen.“ Rütteln, Schreien, Fauchen, Knirschen. Grauenhaft. Bei so wenig artgerechter Haltung ist es kein Wunder, dass immer mal wieder ein Adler stirbt.

Adler zum Ausheben

Deswegen hält der Graf gerne Ausschau nach Nachschub für seinen Käfig. Er ist sowieso immer auf der Jagd, meist mit dem Jäger Franzl. Schießt alles, was ihm vor die Flinte kommt. „Eines Nachmittags, während der Gemspirsche, sahen sie zwei Adler über einer Felswand kreisen. Das brachte eine neue, willkommene Erregung. Graf Egge schoß die erste Gemsgeiß nieder, die ihm über den Weg sprang; sie wurde auf der Zinne als Köder ausgelegt“. Franzl glaubt, Egge wolle die schädlichen Adler schießen. Wie ein naiver Tiroler, der an den Schutz der Lämmer denkt. Weit gefehlt! Graf Egge erklärt: „Schießen? Ich will mehr davon haben! Die wirst du mir füttern über den Winter. Vielleicht bleiben sie horsten. Dann hol ich mir die Jungen aus dem Nest. Das füllt mir den Käfig wieder und bringt Abwechslung.“ Abwechslung. Der Mann hebt Adlernester zur Abwechslung aus, nur so aus Spaß!

Egges zweiter Jäger Schipper, der gerne auch mal wildert, findet die Adler, die sich einen unzugänglichen und versteckten Ort für ihr Nest ausgesucht haben: die „Hangende Wand“. „Sie verdiente mit Recht ihren Namen; breit und massig stieg sie aus dem mit Zirbelkiefern durchsetzten Latschenfeld bis zu einer Höhe von etwa hundertzwanzig Meter empor, im Anstieg die kahlen Steinplatten nach auswärts wölbend, so dass die Kuppe der Felswand über ihren Fuß hinausragte.“

Verflixt. Ausgerechnet hier nistet das Adlerpärchen. Von unten nach oben klettern geht nicht. „Am Seil? So hatte Graf Egge schon drei Horste ausgehoben. Freilich, da hatte das Seil immer nur den Zweck gehabt, ihn beim Einstieg in die Wand vor dem Sturz zu sichern. Aber hier? Wenn er sich „am Tau von der überhängenden Kuppe niederseilen ließe, würde er frei in der Luft schweben, ein Dutzend Meter vom Horst entfernt.“ Er müsste sich dort hinschaukeln, das Seil würde irgendwann reißen. Die Lösung: „Da bleibt nur ein einziger Weg. Die Leiter!“ Da müssen die Dorfbewohner ran, vier Leitern auf 70 Meter gibt der Graf in Auftrag. Die Dörfler zimmern brav wie befohlen.

Als die Leitern fertig sind, soll es auch gleich losgehen. Für Vorsichtsmaßnahmen ist da keine Zeit. Graf Egge schießt zwar das Adlermännchen, verfehlt aber das Weibchen. Was, wenn es plötzlich angreift? Das grenzenlose Zutrauen des Grafen in sich selbst ist nicht zu erschüttern. Er hat keine Angst vor einem Angriff des Adlerweibchens. „Lachend fühlte Graf Egge an die Messertasche. „Dann mach ich es ihm wie dem vor sieben Jahren und stoß ihm den Gnicker in den Hals, wenn er auf mich haßt!“ Lief vor sieben Jahren gut. Ok. Aber muss nicht ein zweites Mal genauso gut laufen, Herr Graf!

Die Leiter werden verschraubt und von 12 Holzknechten, die dafür von oben zwei Seile herablassen, an der „Hangenden Wand“ hochgezogen. Graf Egge will einfach so die Leitern hinauf, ohne Sicherung. Franzl, der furchtsame Bedenkenträger, kann ihn noch überreden, sich wenigstens am Körper anseilen zu lassen.

Das ist auch bitter nötig: „Je höher Graf Egge stiegt, desto heftiger schaukelt die Leiter, so daß ihr Ende lose an der Felswand hin und her zu klatschen begann.“ Mir wird schon vom Lesen ganz schwummerig. „Je mehr er sich der Mitte der Leiter näherte, desto mehr verstärkte sich die pendelnde Bewegung; die Leiter ging auf und nieder wie eine sausende Schaukel“. „Mit aller Kraft mußte Graf Egge sich an die Sprossen klammern, um nicht in die Luft geworfen zu werden.“ Hin und her. Auf und ab. Wie im Karussell. Oder in der Achterbahn.

Das ist zuviel für Franzl. Denkt der Mann nicht an seine Familie? Offenbar nicht. Franzl mahnt umsonst. Es bleibt einem Holzknecht vorbehalten, die bittere Wahrheit auszusprechen.

Bleich wie eine Mauer, stammelte Franzl: „Um Gottswillen! Dös is ja nimmer Kuraschi, dös is Übermut.“ Mit gellender Stimme schrie er: „Herr Graf!  Auf der Stell gehen S‘ runter! Und wann S‘ schon nimmer an Ihnen selber denken, so denken S‘ an Ihnere Kinder! Kehren S‘ um, Herr Graf! Kehren S‘ um!“

Graf Egge hörte nicht.

„Recht hat er, der Franzl!“ brummte einer von den Holzknechten am Fuß der Leiter. „Dös heißt Gott versuchen!“

Graf Egge hing regungslos an die schwingende Leiter geklammert und drückte, um nicht vom Schwindel befallen zu werden, das Gesicht in die Arme.

Courage? Übermut? Nein, zu wenig. Gott versuchen! Nichts anderes. Vernagelt hält Graf Egge an seinem Plan fest, lässt sich von niemandem dreinreden. Glaubt hartnäckig, er schafft das schon. Wär doch gelacht. Hat schließlich immer geklappt. Er will die Grenzen nicht sehen, die gesetzt sind. Für ihn wie für alle anderen. Und er ignoriert den Schwindel, das Taumeln und Schaukeln. Kämpft gegen die Achterbahn an. Alles für sein Privatvergnügen, neue Adler im fiesen Adlerkäfig.

Graf Egges Ende

Gottversucher werden bestraft, so auch Graf Egge. Sein Unglück beschwört er selbst herauf, beim Kraxeln an der Leiter. Schritt 1 zum Untergang: Das Adlerweibchen verletzt Graf Egge. Ein Schatten, ein Keil. Vergebens blitzt das Messer, der Stich geht ins Leere.

Da schollen laute Rufe von der Zinne der Felswand, ein Schatten huschte über die Latschen, und wie ein aus den Lüften fallender Keil stieß das Adlerweibchen auf Graf Egge nieder. Schipper und die Holzknechte schrien wirr durcheinander; sie sahen, wie Graf Egge zur Abwehr den Arm erhob, und sahen das Aufblitzen des Messers. Der Stich ging fehl. Mit einem weißen Leinwandfetzen in den Klauen machte der Adler eine Schwenkung und wollte den Stoß wiederholen.

Franzl schießt den Adler nieder. Alles scheint wieder gut. Es folgt Schritt 2 zum Untergang: Der Adlermist. Graf Egge, endlich am Ziel, greift in den Horst, will die Jungvögel packen.

Da rieselte weißlicher Staub in dicker Menge über die Felsen nieder, und während im Horst die jungen Adler schrien, als wären sie lebendig an den Spieß gesteckt, zog Graf Egge hastig den Kopf zurück und griff nach seinem Gesicht.

Ohne Beute steigt der Graf die Leitersprossen herab. Sie schaukeln und splittern. Jetzt kommt der freie Fall, der Graf hängt hilflos am Seil.

Ein Schrei von allen Lippen, und während die Stücke der gebrochenen Leiter gegen die Felswand schlugen, baumelte Graf Egge am Seil. Noch immer hielt er mit der einen Hand die Augen bedeckt; mit der anderen tastete er über seinem Kopfe nach dem Tau, das sich im langsamen Niedersenken mit dem schwebenden Körper immer rascher zu drehen begann.

Der Adlermist, den Egge abbekommen hat, wirkt tödlich. Sofort schwellen die Augen des Grafen an, er kann nichts mehr sehen. Und: Das Adlerweibchen hat ihn an der Hand verletzt. Der Mist dringt dort ein und vergiftet den Grafen. Am nächsten Tag stirbt er, vorher schießt er noch die Adler in seinem Käfig nieder. Mehr Selbstherrlichkeit geht nicht. Da ändert es auch nichts, dass er sich auf dem Sterbebett mit zwei seiner Kinder wieder versöhnt. Ein Typ zum Gruseln, grauenhaft. Ein Gottversucher.

Verwendete Literatur

Ganghofer, Ludwig: Schloß Hubertus. Roman, Berlin: Th. Knaur Nachf., o. Jahreszahl.

34 Adler im Käfig am Schloss
392-393 Adler sollen angefüttert werden
419-420 Die „Hangende Wand“
426-433 Graf Egge scheitert beim Ausheben des Horstes
467-468 Graf Egge tötet seine Adler
496 Graf Egges Ende

Abbildungsverzeichnis

Ganghofer, Ludwig: Schloss Hubertus. Roman in zwei Bänden, illustriert von Hugo Engl, Stuttgart: Bonz 1913.