Die Quelle des Romans „Die Geier-Wally“: Eine Textedition
Über die Geier-Wally, den ungestümen Wildfang.
Über Fiktion und Wirklichkeit: Anna-Knittel, die echte Geier-Wally.
Über Broschüren und Scharteken.
Die Lechthalerin im Adlerhorst
Ludwig Steub
Inhaltsverzeichnis
- Flussaufwärts von der Donau bis zum Lechthal
- Lechthaler Künstler: Joseph Anton Koch und Anton Falger
- Die Lechthaler Malerin Anna Knittel und ihr Werdegang
Anna Knittels Bericht über das Ausheben eines Adlerhorstes im Juni 1863
- Die Lechthaler bereiten das Ausheben vor
- Anna hebt den Adlerhorst aus
- Rückkehr ins Tal mit Alpenmilch, Regen und Musik
Anmerkungen
Quellennachweis
Verwendete Literatur
Land und Leute im Lechthal
Flussaufwärts von der Donau bis zum Lechthal
Der Lech ist bekanntlich ein Strom, welcher an der berühmten Stadt Augsburg (Augusta Vindelicorum) vorüberfließt und sich unterhalb des Städtchens Donauwörth, welches auch nicht ganz namenlos, in die Donau ergießt. Er ist grün, gelblich, blau, tief oder seicht, je nach der Jahreszeit oder der Witterung, thut vielen Schaden am Ufergelände, zerstört Brücken und Mühlen, hat daher auf dieser Welt wenig Freunde und unseres Wissens auch noch keinen Dichter gefunden. Er entschuldigt sich mit der Behauptung, daß er ein Sohn der freien Alpen sei, daß man im sanglosen Flachland „heraußen“ sein poetisches Stürmen nicht recht verstehe oder zu empfindlich aufnehme, allein man weiß wohl, was man auf derlei Reden unverständiger Leidenschaft zu geben hat. Hat er doch auch schon vor vielen Jahrhunderten das alte Schloß Gunzenleh hinweggerissen, bei welchem einst am Lorenzitage 955 die große Ungarnschlacht geschlagen wurde, an welchem etwas später Herzog Heinrich der Welfe sein Beilager feierte, und Herzog Welf von Altorf und Spoleto den fröhlichen Adel von Baiern und Schwaben tagelang mit großer Lustbarkeit bewirthete. Es steht davon jetzt kein Ziegelstein mehr, was die Geschichtschreiber und Alterthümler noch täglich beklagen. In Anbetracht solcher Wildheit haben sich auch auf ebenem Felde zu beiden Seiten des Flusses gar wenige Ortschaften angesiedelt; nur wo die Ufer bergartig in die Höhe gehen, erblickt der Wanderer freundliche Städtchen in erhabener Lage, einst gute Festen, mitunter von großen Feldherren belagert, eingenommen und oft genannt, doch jetzt viel glücklicher in ihrer friedlichen Verschollenheit. Wir meinen da etwa Landsberg, Schongau und das einst bischöflich augsburgische Füßen, wo der heilige Magnus vor tausend Jahren seine reiche Abtei gegründet hat. Hier soll auch einst von einer Felsenplatte zur andern, die der prächtige Wasserfall des Lechs trennt, Julius Cäsar auf seinem Schlachtroß über den stürzenden Strom gesetzt haben. Die füßener Leute bewundern den Sprung noch heutzutage und behaupten sogar, er sei das wichtigste, was jener in seinem Leben gethan habe. Jedenfalls thue es ihm kein anderer nach.
Nicht weit von Füßen liegt auch Hohenschwangau, was aber so bekannt, daß wir hier nicht weiter davon sprechen wollen.
Von Füßen sind nur ein paar Schritte ins Tirol, wo das fröhliche Weinleben angeht, auch die Mädchen schöner werden und die Berge immer größer. Ist man zwei Stunden gegangen, so erreicht man einen nahrhaften Marktflecken, der in weiten Auen liegt und vermöge seiner guten Wirthshäuser dem Fremdling eine angenehme Verpflegung gewährt. Er nennt sich Reute. Das Gebirge hier herum ist schon sehr mächtig und bedeutungsvoll. Aus der Ferne schauen die Trümmer von Ehrenberg in die Gegend, welches einst eine Feste war und auch einiges zu erzählen gäbe, wenn wir uns in dieser Gegend aufhalten dürften.
Hier glaubt nun mancher vielleicht schon im Lechthale zu sein, aber es ist doch nicht das wahre und eigentliche. Um dieses zu erreichen, muß man vielmehr noch fünf oder sechs Stunden wandern, durch eine Landschaft, welche nur im Anfang noch angenehm ist, dann aber öde und langweilig. Der Pilger geht lange Zeit über die kiesigen Anschwemmungen des Lechs, die nur dürftig mit Gras, desto reichlicher aber mit Weidengebüsche bewachsen sind. Ein paar ärmliche Dörfchen stehen am Wege – ein Kirchthürmlein, ein Gottesacker, etliche schindelgedeckte Hütten.
Endlich thut sich die Enge auseinander und es erscheint das wahre und eigentliche, das prächtige Lechthal. Hier nämlich, weit hinter den gewöhnlichen Menschen, liegen im grünen, weltenlegenen Thale mehrre Dörfer nacheinander, alle aus den schönsten Häusern zusammengesetzt. Man sieht da reizende Dächer und Giebel, reich verzierte Fenster mit leuchtenden Scheiben, gestickte Vorhänge dahinter, tiefsinnige Inschriften über den kunstreichen Thorbogen, vor den Häusern manche farbige Veranda, unter der die Mädchen abends Zither spielen, anmuthige Zier- und Blumengärten mit rauschenden Springbrunnen – kurz alle Zeichen eines ausgiebigen Wohlstandes und heiterer Lebensfreude. Alles dies kommt daher, daß die Lechthaler einst groß und mächtig waren im Verkehr der Welt und reich geworden sind im Handel mit ihren Gütern.
Vielfältig kommt es ja in den Alpen vor, daß sich irgendein abgeschiedenes Thälchen – man weiß nicht recht warum – auf irgendeinen Industriezweig wirft und ihn mit Leidenschaft ausbeutet. So haben sich die Grödner die Schnitzerei erkoren, die Stubaier das Eisengewerbe, die Imster einst die Pflege und Erziehung der Kanarienvögel, die Zillerthaler sind berühmt als Handschuhhändler oder Natursänger, und man weiß jetzt am Mississippi so gut von ihnen zu reden wie an der Wolga. Desgleichen kam es eines schönen Morgens die Lechthalern an, sich auf die Schnittwaren zu werfen und vor etwa hundert Jahren fingen die Sprenger, die Schueler, die Schnöller an, in die Fremde zu gehen, zumal in die Niederlande, und selbst jenseits des Oceans, in Neuyork, große Häuser zu gründen. In ihren Truhen sammelten sich die Schätze zweier Hemisphären, und wenn sie gestritten und gelitten in der schnöden Welt, kamen sie wieder zurück, um aus der Unschuld ihres Thales ein blondes Mädchen auszusuchen, oder auch sich erfahrungsreich zur Ruhe zu sehen. Dann pflegten sie sich ein schönes Haus zu bauen, und es stattlich einzurichten, schauten in der Schlafmütze zum Fenster hinaus, sprachen beim Abendtrunk in verschiedenen Zungen und fühlten sich glücklich, vielleicht auch erhaben über das blöde Bauernvolk der Nachbarthäler, welches alterthümlich fortfuhr, seine Kühe zu melken und seinen magern Hafer zu schneiden. Aber wenn die Grödner an ihr Thal mit festem Band gebunden waren, weil sie nirgends wie da die Zirbelbäume fanden, aus denen sie ihre Thierchen, ihre Hanswurste und ihre Heiligen schnitzen konnten, und wenn sohin die Hauptniederlage ihres Handels immer in der stillen Heimat blieb, so waren dagegen die Lechthaler schon von Anfang an gänzlich auf die Fremde verwiesen, denn daort kauften sie ihre Waare und dort fanden sie auch wieder ihren Absatz. So wars kein Wunder, daß die Beziehungen zwischen denen, die zu Hause blieben und jenen, die in der weiten Welt ihren Herd gegründet, sich allmählich lockerten und in nicht langer Zeit allen Halt verloren. Die Auswanderer kamen nicht mehr zurück, und die Heimischen verlernten mehr und mehr die Sehnsucht nach der Fremde. So lebt man denn seit mehr als einem Menschenalter still und gemüthlich dahin, sucht den Wohlstand, wenn nicht zu vermehren, doch durch Fleiß und Sparsamkeit zu erhalten, und zeigt nur noch an hohen Feiertagen, bei Hochzeitsgelagen und derlei Gelegenheiten, daß man noch immerhin etwas aufgehen lassen könne, ohne sich weh zu thun.
Lechthaler Künstler: Joseph Anton Koch und Anton Falger
Indessen ist nicht jeder Lechthaler ein leicht lebendes Glückskind, sondern es gibt und gab zu allen Zeiten auch sehr arme Leute unter ihnen. Aus einer recht dürftigen Familie stammte z. B. jener berühmte Joseph Koch, der zu Obergieblen bei Elbigenalp 1768 geboren, und unter den tirolischen Malern jedenfalls der geistreichste ist. Nach einer Jugend, die er als Hirtenknabe auf einsamer Alpenweide zugebracht, führte ihn seine Mutter zur „Studi“ nach Dillingen, welches damals zum Hochstift Augsburg gehörte. Von da begab er sich nach Stuttgart, wo er zu Schiller‘s Zeiten in die Karlsschule aufgenommen wurde, aber nach fünf Lehrjahren flüchtig ging, um in Straßburg 1792 die Freiheit zu suchen. Als er sie nicht gefunden, erreichte er endlich 1795 das ersehnte Italien und das ewige Rom, wo er 1839 starb. Auf seine Größe wollen wir nicht näher eingehen; es genügt uns, daran erinnert zu haben, daß er ein Lechthaler gewesen.
Minder berühmt, doch für sein Heimathsthal viel segensreicher ist ein alter Herr, der zu Elbigenalp ein elegantes Haus bewohnt und sich Anton Falger nennt. Sein Geburtstag liegt schon im vorigen Jahrhundert, auch kam er schon 1808 nach München, widmete sich der Kupferstecherei, kämpfte später im bairischen Heere die Feldzüge von 1813 und 1814 durch, gravirte dann manches Jahr in der königl. baierischen Steuerkataster-Commission und zog sich zuletzt (1832) noch in frischem Alter, nach der Weise der Väter, in sein Lechthal zurück, um dort zu heirathen und seine Tage zu beschließen. Seit dieser Zeit hat er auch nur diesem alle seine Kräfte gewidmet. Herr Falger gravirt Karten und Ansichten und malt umsonst die Todtentänze auf den Dorfkirchhöfen. Ferner sammelt er alles, was der Historie seines Lechthals, wenn sie dereinst verfaßt wird, von Nutzen sein kann. Er schreibt sich alles zusammen, was die Ueberlieferung des Volkes festhält oder was die Kirchenbücher und die Gemeindeladen aus vergangenen Zeiten berichten. Nebenbei entstand denn auch eine ganz hübsche Sammlung von lechthalischen Alterthümern.
Ueberdies hat Herr Falger ein naturwissenschaftliches Museum errichtet, in welchem allerlei Gestein, Muscheln, ausgestopfte Thiere und verwandte Gegenstände zu finden sind. Da hängen auch verschiedene sehenswerthe Gemälde an den Wänden. In den letzten Jahren schnitt er mit großer Kunst in feines Zirbenholz die schönsten Baudenkmale Europas ein. Und wie er milde, gefällig und hilfreich für seine Landsleute, so zu sagen der Vertreter aller idealen Richtungen des Lechthales, so ist er auch gar gastfreundlich gegen Fremde, die bei ihm zusprechen und sich über die Eigenthümlichkeiten seiner Heimat mit ihm unterhalten wollen.
Im Lechthal hört man, was Feld und Wald betrifft, schon lange nichts mehr von reißendem Gethiere. Die Bären und die Luchse sind längst erschossen, aber in den Lüften treibt sich noch manch mächtiger Aar herum. In den Alpen ist das deutsche Wappenthier nicht sonderlich beliebt, denn es schwebt da nicht steif und ehrwürdig mit Scepter und Reichsapfel im goldenen Feld, sondern stürzt sich aus dem blauen Himmel oft räuberisch auf die jungen Lämmer herab und trägt sie in sein übelriechendes Nest. Dieses erbaut der Aar zumeist an steilen Felswänden, die er für unzugänglich hält – allein die gelenkige Jugend des Thales überweist ihn nicht selten, daß sein Dafürhalten ohne Grund gewesen, und mitunter, wenn er am wenigsten daran denkt, zeigt sich ein blonder Hirtenknabe in dem schwindelnden Horst, der seine Jungen ausnimmt und ihm selbst den Tod bringt. Aber nicht die blonden Epheben allein find es, die solche Sträuße wagen, sondern auch die lieblichen Jungfrauen des Thales unternehmen zuweilen, von kühnem Thatendrange und edlem Ehrgeiz getrieben, derlei gefährliche Abenteuer. Und wenn wir bisher schon mehr als eine Spalte mit harmlosen Mittheilungen über den Lech und das Lechthal gefüllt, so geschah es nicht sowol, um die deutsche Land- und Völkerkunde zu bereichern, als vielmehr um einen kleinen Rahmen zu schaffen für das merkwürdige Wagstück, welches in diesem Sommer ein Lechthaler Mädchen ausgeführt.
Die Lechthaler Malerin Anna Knittel und ihr Werdegang
Zu Untergieblen bei Elbigenalp lebt nämlich ein berühmter Büchsenmacher, der ursprünglich armen Standes war, jedoch sich allmählich mit schlechtem Handwerkszeug, aber guter Einsicht aus der Dürftigkeit herausarbeitete und in seinem Fache eine Celebrität wurde, so daß ihm auch seiner Zeit die Hand eines schönen und wohlhabenden Mädchens nicht lange versagt blieb. Der Maler Koch war sein Onkel gewesen, und obgleich die Büchsenmacherkunst und die historische Landschaftsmalerei nur in sehr fernem Zusammenhange stehen, so hat doch vielleicht der Geist des Oheims auf den strebsamen Jüngling einen segnenden Schatten geworfen. Wie dem auch sei, in dem zierlichen Häuschen, das sich der wackere Mann fast allein mit eigenen Händen erbaut, kam vor etwa zwanzig Jahren eine kleine Lechthalerin zur Welt, welcher die er freuten Aeltern den Namen Anna beilegten. In diesem Sprößling manifeftirte sich aber der Geist des Großonkels schon etwas handgreiflicher. Klein-Anna zeichnete bereits in der Werktagsschule die witzigsten Caricaturen auf ihre Mitschüler. Diese fanden sich, wie es scheint, schon frühzeitig bewogen, den jungen Genius anzuerkennen, da sie die Heiligenbildchen, die ihnen der Curat geschenkt, im Tauschwege gern losschlugen, um ihre eigenen Zerrbilder einzuhandeln. Kein Wunder, daß auch der kunstsinnige Herr Falger sein Auge auf das keimende Talentchen warf, und es ging nicht lange her, bis dieses zweimal in der Woche mit dem Reißbrett unterm Arme zu ihm „in die Stunde“ kam. Als die Tochter ungefähr siebzehn Jahre alt war, da traf es sich eines Tages, daß der Vater an hoher Felsenwand ein Adlernest entdeckte, aber es fand sich niemand, der sich an dem Seile herunterlassen wollte, um es an der senkrechten Klippe auszunehmen. Im Gespräche mit dem Mädchen ließ der alte Jäger nun die Aeußerung fallen, wenn er wüßte, daß sie vor der Gefahr nicht zittern würde – „Nein“, rief sie aufspringend, „ich bin der Mann dazu!“ – und der Vater glaubte es, und das Wagniß gelang. Die kühne That war das Vorbild jener zweiten, die demnächst erzählt werden soll und dieser auch, wie wir hören, in allen Hauptstücken ähnlich.
Unsere Freundin, die wir aber noch nie gesehen haben, kam nun allmählich, mächtig angespornt von Herrn Falger, der ein inniger Freund ihres Hauses ist, zu dem Entschlusse, das ganze Leben der Kunst zu widmen. Der Vater brachte sie nach München, aber sie verhehlt nicht, daß ihr ein ellenlanger Stich durchs Herz ging als sie die Locomotive pfeifen hörte, die ihn wieder davon trug. Doch ein Jahr war bald dahin und mit einem schönen Zeugniß bewaffnet, trat sie den Heimweg nach Reute an, wo Vater und Bruder schon auf sie warteten, um sie in die Arme der lieben Mutter zurückzuführen. Auch ein zweites Jahr verging der jungen Lechthalerin zu München, und nach diesem fuhr sie wieder heim, arbeitete auf dem Feld bis der Malkasten ankam – er blieb vermöge des jetzt so beschleunigten Verkehrs so lange aus, daß der Vater zu zweifeln anfing, ob sie denn wirlich einen habe – und dann ging sie das Lechthal auf und ab und malte Porträte, in denen die dortigen Kunstverständigen ebenso sehr die geistreiche Auffassung als den zarten Pinsel zu rühmen wußten. Es schien ihr ein angenehmes und ehrenvolles Künstlerleben in der Heimath bevorzustehen und es braucht dabei wol nicht verborgen zu bleiben, daß Herrn Falger‘s Großherzigkeit an dieser Wendung der Dinge auch ihren Antheil hatte. Als aber das dritte Jahr in München herumgegangen und sie wieder nach Hause gekommen war, da leuchteten minder freund- liche Sterne. Die Honoratioren im obern Lechthal waren schon alle gemalt, die minderen Leute glaubten der eingeborenen Kunst keine Rücksicht schuldig zu sein und die neuen Anmeldungen blieben daher gänzlich aus. Was hilft die Porträtirkunst, wenn sich niemand malen läßt?
Jung Anna spritzte traurig den Pinsel aus, ging wieder ins Feld oder saß bei schlechtem Wetter zu Hause und flickte ihren Schwestern die Mieder zusammen. Der alte Herr Falger kam täglich in den Heimgarten und blickte wehmüthig auf seine Schülerin, wie auf eine verlorene Seele. Aber plöglich raffte sich diese wieder auf und sprach: „Wollen sich die anderen nicht malen lassen, so mal‘ ich mich fortan selber,“ und damit fing sie an ein Conterfei ihrer eigenen Gestalt zu entwerfen und zwar in der festlichen Tracht des Thales. Als es vollendet war, ging es nach Innsbruck, um dort im Ferdinandeum ausgestellt zu werden die Thäterin aber saß mittlerweile in großer Angst zu Untergieblen, unsicher, was die gebildete Welt der Landeshauptstadt zu ihren Leistungen sagen würde und fast fürchtend, es möchte alles, Zeit und Geld und Lebensfreude, nun endgültig verscherzt sein. Doch bald verkündete ein Zeitungsblatt, daß das Bild allgemeinen Beifall gefunden und auch vom Ferdinandeum bereits angekauft worden sei. Nunmehro entstand ein Jubel ohne Grenzen beim Büchsenmacher zu Elbigenalp und der alte Herr Falger kam mit nassen Augen auch herein und sprach wie der greise Simeon im Tempel: Nun laß, o Herr, deinen Diener im Frieden fahren, denn’s Nannele ist auf dem rechten Weg!
Alle aber glaubten, daß des Schicksals Stimme die junge Malerin jetzt nach Innsbruck, in die Landeshauptstadt rufe und auf Michaeli heurigen Jahres trat auch Herr Knittel, der Büchsenmacher, mit seiner Tochter die Reise an.
Als er am Ziele angekommen, stellte er die junge Künstlerin zunächst allen seinen Geschäftsfreunden vor, denen er bisher die Büchsen gemacht oder reparirt und die wackeren Schützen sollen ihm nicht wenig Schmeichelhaftes gesagt haben über die liebliche Blume, die er in seinem Hausgärtchen aufgezogen. Doch auch die feineren Kreise öffneten sich dem begabten Landeskinde und es verging nur kurze Zeit bis es den Auftrag erhielt, das Porträt eines Erzherzogs für den Schießstand zu Innsbruck zu malen. Hiermit ist es noch zur Zeit beschäftigt und sieht mit frischen Augen in eine schöne Zukunft.
Unser lechthaler Mädchen oder innsbrucker Fräulein – wir wissen in der That nicht, was sie lieber hört – hat aber im letzten Sommer auch noch auf andere Weise den Leuten zu reden gegeben: nämlich als sie sich hinten in einem Nebenthälchen, das ins Lechthal mündet, über eine grauenhafte Felswand herunterließ, um abermals ein Adlernest auszuheben. Den Bericht darüber hat sie mit eigener Hand zur Erinnerung niedergeschrieben und hier folgt er:
Anna Knittels Bericht über das Ausheben eines Adlerhorstes im Juni 1863
Die Lechthaler bereiten das Ausheben vor
„Mein Vater ist ein ungemeiner Freund der Jagd und versäumt daher keine Gelegenheit, diese seine Liebhaberei zu befriedigen. Als er nun einmal um heurige Pfingsten auf die Gemsen nach Alberschon1 ging, entdeckte er in den Lüften einen großen Adler, der sich über die Saxenwand in weiten Kreisen umherbewegte. Bis dahin waren sieben Jahre vergangen, seit man dort von solchem Gethier etwas verspürt hatte. Nunmehr aber hegte mein Vater, der dessen Wesen gründlich kennen gelernt, gar keinen Zweifel mehr, daß oben im Steingewänd wieder ein Adlerpaar seine Niederlassung aufgeschlagen habe.
Mein Bruder Hannes war auch bei dem Vater und so legten sich die beiden auf die Lauer, um auszukundschaften, an welchem Orte sich die Familie wol angesiedelt habe. Sie spähten nicht gar lange, als sie einen der Alten mit etwas Nahrung im Schnabel in die weiße Saxenwand fliegen sahen. Sofort gingen sie etwas höher in den Wald hinauf, wo sie mit dem Fernrohr eine genaue Einsicht in das Nest nehmen konnten. Der Horst, vielleicht schon Jahrhunderte alt, war wieder mit frischem groben Lärchenreisig belegt und enthielt einen jungen Adler, welcher noch ganz gelblich war und daher eben erst ausgeschlüpft sein mußte.
Es versteht sich von selbst, daß mein Vater keine Ruhe hatte, bis das Nest ausgenommen war. Ich erbot mich, wiederum die Heldin zu spielen, was er nicht ungern annahm. Nach etlichen Tagen wurde allen denen, welche bei dem Unternehmen gegenwärtig sein wollten, die Botschaft gethan, daß es am 11. Juni losgehen werde. Kurze Zeit vorher packte ich meinem Vater auf einige Marende ein, da er versuchen wollte, ob nicht etwa einer oder beide der Alten zu schießen seien. Zu diesem Zwecke nahm er Schiffers Honnus und den alten Forstgehülfen Goldner mit. Schiffers Honnus ist ein recht tüchtiger, noch junger Bursche und guter Schütze, der uns durch seine drolligen Einfälle viel Spaß zu machen pflegt.
Auf die Nacht thaten sie sich gütlich in den Sennhütten zu Sax, welche oben auf der Felswand mitten in der wunderschönen Alm zerstreut umherliegen. Vom frühesten Morgen an aber lagen die drei Schützen auf gespannter Lauer, konnten jedoch ihr Wild nicht erwarten. Mein Vater selbst saß achtzehn Stunden fast ununterbrochen auf dem Rande der Wand, allein vergebens. Der Junge im Nest mußte freilich Hunger haben, denn er versuchte an dem kleinen Vorrath, den die nachlässigen Aeltern zurückgelassen, selbst sich etwas zu letzen, aber noch zu matt und schwach purzelte er immer wieder neben das Aas hin, ohne seinen Zweck zu erreichen.
Endlich brach der Morgen des 11. Juni an und um diese Zeit setzte sich auch die Gesellschaft vom Thale aus in Bewegung. Da war nun dabei: einmal Vetter Holz, meines Vaters Bruder, ein tüchtiger, starker Mensch. Auch Albert Stambacher ging mit uns, obwol er weither hatte, zwar ein Lehrer von Profession, aber ein liebenswürdiger kräftiger Bursche, der recht gut Klavier spielt. Die Hauptperson jedoch war David Günther, der alte Oberschützenmeister von Elbigenalp, ein sonderlich braver und wackerer Herr. Ferner schlossen sich der Gemeindearzt Fulterer und mehrre junge Leute dem Zuge an und so gings lustig durchs Thal hinein. Mein Bruder Hans trug das gewichtige Seil und spielte einige lustige Weisen auf der Mundharmonika, dem üblichen Instrumente, welches die Burschen seines Alters immer mit sich führen. Auf daß ich‘s recht bequem hätte, nahm Albert mir auch noch den Bündel mit den Hosen und den Schuhen meines Bruders ab. Diese hatte ich mitgenommen, um sie später anzuziehen.
Nach dreistündigem und zuletzt sehr steilem Wege waren wir oben auf der Felsenwand und hörten endlich auch das Angeben (Erwidern) der Schützen auf unser Juchhezen, doch klang es nicht so fröhlich als ich mir eingebildet hatte. Schiffers Honnus kam gleich auf uns zugelaufen und antwortete endlich auf meine raschen Fragen, daß sie von den alten Adlern leider keinen erlegt hätten. Nun war mir schon eine Hoffnung zu Wasser geworden, denn ich hatte mich ungemein gefreut, wieder einmal recht schöne Adlerfedern zu bekommen, die sich auf den Strohhüten so gut ausnehmen, da sie viel feinern Flaum haben als die Straußenfedern. Auch mein liebes Väterchen kam durch die Lärchenbäume gewackelt und erzählte mit größtem Eifer, daß ihm trotz 18stündigen Wartens keiner der Alten angeflogen sei, was ihn außerordentlich ärgerte.
Nachdem wir noch ein wenig ausgeruht, beschloß man an das Werk zu gehen und den Jungen heraufzuholen. Alle Augen sahen auf mich, ob mir noch wol ums Herz sei; allein ich verspürte keine Angst. Hatte ich doch schon vor sieben Jahren als 15jähriges Mädchen das Herz gehabt, am nämlichen Felsen ebenfalls einen Adler auszunehmen, wo ich überdies zu dem jungen auch noch den alten aufpacken mußte, welchen mein Vater um 9 Uhr abends, also fast bei finsterer Nacht, noch im Nest erschossen hatte. Warum sollte ich nun jetzt nicht hinunter? Freilich war ich mittlerweile etwas schwerer geworden, doch das machte ja nichts! War ja doch ein verlässiges Häuflein junger Bursche dabei, die nicht danach aussahen, als wenn sie mich unten stecken lassen würden.
Anna hebt den Adlerhorst aus
Nachdem ich nun mein Vorhaben wiederholt zu erkennen gegeben hatte, zog ich mich in die Sennhütte zurück, sprang mit allen Röcken in die Hosen meines Bruders2 und kam bald als stattlicher Bursche wieder zur Gesellschaft zurück, die sich über meine abenteuerliche Gestalt nicht wenig lustig machte.
Unser alter Oberschützenmeister, der mich schon damals vor sieben Jahren an das Seil befestigt hatte, ließ es sich nicht nehmen, mir diesen Liebesdienst auch nunmehr zu erweisen. Er begann das Tau zurecht zu machen und knüpfte mich langsam und bedächtig mit Hülfe anderer Stricke recht fest und sicher in dasselbe ein, wobei er ängstlich Acht hatte, daß es mich nirgends drücken oder schmerzen sollte. Zulegt griff ich nach meinem zweizinkigen Haken, der mich sowohl vor den unsanften Berührungen des Felsens als auch nöthigenfalls vor den Mordgelüften der alten Aare schützen sollte.
Und nun war alles fertig. Der Vater begab sich auf seinen Posten, abwärts im Walde, gegenüber dem Horste, um von dort aus meine Befehle den anderen zuzurufen, die sie sonst nicht mehr hören konnten. Und der alte lustige Goldner, der für mich heimlich zitterte, ging an einen recht schönen Platz, wo er mich von der Seite herunterschweben sehen konnte.
Heimlich ein kurzes Stoßgebetlein murmelnd und den Burschen wohl empfehlend, mich ja recht festzuhalten, was sie mir auch in aller Treue versprachen, brach ich langsam zwischen zwei mächtigen Lärchenbäumen durch, drückte das Gesträuch, das den Saum der Wand verkleidete, auseinander und — grausig kalt wehte der Wind vom Abgrund herauf. Ich schielte hinunter und gewahrte die schreckliche Tiefe, nur weit unten durch eine immer nasse Platte unterbrochen, auf welche das Wasser von der Felsenwand fort und fort eintönig hinunterplätscherte. Unter der Platte zog sich eine schauerlich wüste Schlucht hinab bis an den Thalbach. Da mögen im Winter wol manche Lawinen hinuntertosen!
Unwillkürlich befühlte ich mich noch einmal, ob ich denn auch recht festgebunden sei und fragte deshalb, um mich noch mehr zu vergewissern, auch Schiffers Honnus, der mir bis an den Scheitel der Felswand herunter gefolgt war und mit der größten Waghalsigkeit eben nur am Gebüsche sich festhielt. Ich selber sagte ja auf meine Frage, denn Honnus hörte mich nicht mehr, da es bereits hinunterging am schartigen wüsten Felsen hin, wo ich mich mit meinem Haken tapfer wehren mußte, um nicht an die Wand geschleudert zu werden.
Weiter und immer weiter sank ich hinunter – aber plötzlich erblickte ich eine prachtvolle Steinnelke, die ich sofort pflückte und an meinen Brustlatz steckte. Bald darauf sah ich mich von der überhängenden Felswand ganz entfernt und frei in der Luft schweben. Das Seil fing an, sich um und um zu drehen, sodaß ich, die bisher nur das Gestein vor Augen gehabt, nunmehr mit dem Gesicht willenlos der schrecklich schönen Aussicht zugekehrt wurde. Zwei, drei-, viermal drehte es mich; endlich glaubte ich dem Horste, den ich jetzt auch zu sehen bekam, gerade gegenüber zu sein und schrie meinem Vater „Halt“ zu, worauf ich mich selbst in schwingende Bewegung zu bringen suchte, um dem Neste näher zu kommen und mich einhaken zu können. Nach einigen vergeblichen Versuchen schien es gelingen zu wollen – schon glaubte ich den Haken im Neste zu haben, schon meinte ich im nächsten Moment den Fuß auf die Klippe zu setzen – allein ich hatte die Rechnung ohne den Wirth gemacht, denn das Seil reichte nicht so weit und ich mußte wieder ablassen. Wiederum drehte es mich um im Kreise und noch ärger als vorher, denn da ich mich von dem Felsen kräftig abgeschnellt hatte, bekam mein Körper einen neuen Schwung. Ungeduldig rief ich meinem Vater zu, er möchte mir doch mehr Seil geben lassen. Endlich ein starker Ruck und nun war der langersehnte schöne Augenblick gekommen. Ich hakte mich ein, zog mich hin und trat in das Nest. Ich fand den Gesuchten und neben ihm ein halbverzehrtes Lamm. Zuerst nun griff ich mit der einen Hand nach dem jungen Adler, welcher sich schüchtern zu sträuben anfing. Ich kniete nieder und liebkoste ihn. Behutsam holte ich den Waidsack vom Rücken, legte zuerst das angefressene Lamm hinein, dann Reiser darauf, um meinem Pflegling ein weiches Nest zu bereiten, dann beförderte ich diesen selbst hinein, knüpfte zu und stellte den Sack in eine Ecke, um mich nun ungestört über das Bisherige zu freuen.
Ich lehnte mich an den zackigen Felsen, sah in das prachtvolle Thal hinaus und staunte bewundernd diese wilde Schönheit an. Zur linken Hand zog sich das Alberschonethal gegen das Lechthal hinaus, wo sich die lieben Berge der Heimat zeigten, in deren Schatten mein trautes Vaterhaus seinen bescheidenen Giebel erhebt. Gerade unter mir gähnte der Abgrund und das wüste zerrissene Thal mit gebrochenen Baumstämmen und Steinblöcken wild durcheinander. Der blaue Thalbach windet sich mit seinem fernen, heimlichen Rauschen durch Felsen und Schluchten dahin. Auf einer Alm, die gegenüber liegt, stehen Sennhütten und Heustädel. Rechts hinein verliert sich das wilde, wunderschöne Parseierthal, welches drei prachtvolle Bergspitzen in das wolkenlose Firmament hineinstreckte.
Lange lag ich und träumte in diese schöne und gerade heute so wunderschöne Natur hinaus. Ich dachte zurück in mein 15. Jahr, wo ich eben an dieser Stelle gewesen, freilich mit verzagterm Herzen als heute. Wie ein Traum sind mir diese sieben Jahre vorübergegangen. Damals noch ein Kind, hatte ich keine Ahnung, wie mich bald eine unsichtbare Hand von den lieben Eltern und der süßen Heimat fort und in die Fremde, in die weite Welt hinausführen würde, als Schülerin in einer Kunst, die oft den Männern viel zu schwer wird. Doch vertrauend auf das Wort meines alten Lehrers, des geliebten Falgers, der mir eine schöne Zukunft versprach, hab‘ ichs gewagt. Vier Jahre sind seitdem dahin und gut ist mirs gegangen. Und da ich mich dessen so warm erfreute und dankbar zum Schöpfer aller dieser Herrlichkeiten aufblickte, so wurde dieser Adlerhorst ein Zeuge des innigsten Gebets.
Endlich hörte ich den Doctor Fulterer von den Sennhütten heraufjohlen. Dieser war nämlich zu bequem gewesen, um mit auf die Felsplatte zu steigen und schaute mir mit dem Perspective von ferne zu. Mein ruhiges Verhalten mußte ihn langweilen, und so störte er meine so schöne Seelenstimmung mit seinem unglücklichen Gejohle. Aergerlich versuchte auch ich das Juchzen und hell klang es an den Felsenwänden das Thal entlang und von allen Seiten wurde mir angegeben. Dies erfüllte mich wieder mit meiner alten Fröhlichkeit. Ich ließ noch einige Juchzer ab und schlug dann einen Kuhreigen an. Nun genug, dachte ich mir, jetzt haben sie wenigstens gehört, daß mir die Angst die Kehle nicht zuschnürt.
Später sah ich mich noch weiter im Neste um und fand bald eine saubere Platte, wo ich mit dem mitgebrachten Röthel meinen Namen und die Jahrzahl unsers Heils hinschreiben konnte. Nebenbei bemerkte ich auch recht niedliche kleine Farrenkräuter und nahm einige mit als Andenken in mein Kräuteralbum, das von vielen solchen Andenken bereits schön dick wird.
Väterchen schrie nun ganz ungeduldig, ich solle mich wieder hinaufmachen, wozu ich mich denn auch anschickte. Ruhig ließ ich mich mit dem Haken wieder in die Luft hinaus, mußte aber trotzdem wieder die alten Kreise beschreiben. Ich fühlte mich unbehaglich und rief mit lauter Stimme hinauf, sie sollten doch schneller ziehen, aber die Burschen oben hörten mich nicht und bis der Vater es hinaufgerufen und bis die anderen es verstanden hatten, verging eine ziemliche Zeit. Mittlerweile näherte ich mich wieder den Felsenzacken und als das schnellere Ziehen, das ich so sehr gewünscht hatte, endlich sich spüren ließ, wäre es bald mein Unglück geworden, denn die Bursche rissen mich so ungestüm an den rauhen Schrofen hinauf, daß ich aller meiner Geistesgegenwart bedurfte, um immer „langsam, langsam“, zu rufen und mich vor einem schmerzlichen oder gar gefährlichen Zusammenstoß mit dem Felsen zu hüten. Ich wehrte mich mit Händen und Füßen ganz verzweifelt, wobei ich einen großen Steinklumpen los machte, welcher krachend auf die nasse gelbe Platte prallte und polternd in das Thal hinunterrollte. Als mein „langsam“ endlich erhört war, hatte ich dessen nicht mehr nöthig, denn ich war schon bei dem Buschwerke oben an der Felsenzinne angelangt, ließ mich gemüthlich ganz hinaufziehen, schlüpfte an den Lärchenbäumen empor und wäre dem alten Schützenmeister bald um den Hals gefallen, so groß war meine Freude über den glücklichen Verlauf, zugleich aber zankte ich die Burschen tüchtig aus, zumal meinen ungelehrigen Vetter. Sie aber lachten über mich und fingen lachend an, mich von meinen Unbequemlichkeiten zu befreien, der eine von dem Waidsack mit dem jungen Adler, der andere von den Stricken. Dieses jedoch brachte zuletzt kein anderer zuwege als der alte Schützenmeister mit seiner unverwüstlichen Geduld. Allgemach war auch mein Vater herbeigekommen und ertheilte mir die wohlverdienten Lobsprüche. Am besten aber nahm sich mein alter Goldner aus, der keuchend auf uns zukam und in einem fort fast jammernd ausrief, was das doch schön ges wesen wäre, wenn nur alle bei ihm gestanden hätten.
Unterdessen war ich von den hemmenden Stricken frei geworden und noch vergnügter als vorher. Ich weiß wirklich nicht, was sich ein vornehmes, in gestrenger Etikette aufgewachsenes Stadtfräulein wohl gedacht hätte, wenn es mich damals in der Hose meines Bruders und in dessen Schuhen, dabei aber doch in meinem Brustlatz und den Zöpfen, das Kopftüchel kühn hinaufgebunden, beobachtet hätte, wie ich in der Freude meines Herzens hoch aufjauchzte und hinter einen mächtigen Baum lief, um nach abgelegter Verkleidung als lechthaler Mädchen wieder vor dem Publikum zu erscheinen!
Rückkehr ins Tal mit Alpenmilch, Regen und Musik
Vater machte sich unterdessen mit dem jungen Adler zu schaffen, hatte ihn bald aus seinem Sacke herausgeholt, schnitt das halbverzehrte Lamm zu handsamen Bröcklein und war väterlich besorgt, sie dem hungernden Kleinen einzubringen, was auch leicht von Statten ging, denn der junge Aar bemächtigte sich mit unverkennbarem Appetite der dargebotenen Nahrung und zeigte auch sonst keine Verlegenheit. Darauf wurde der glorreich errungenen Beute ein bequemes Bettchen zugerichtet und Bruder Hans lud die theure Last auf seine Schultern, um sie heimzutragen.
Als alles in Ordnung war, setzte sich die Gesellschaft wieder in Bewegung. Ich freute mich fort und fort über das gelungene Wagstück und sprang juchzend und jodelnd den steilen Abhang hinunter. Am Fuße der Höhe liegt die Alpe Seele, die schon mit Vieh besetzt war und daher Aussicht auf gute Milch eröffnete. Dort angekommen, eilte ich sogleich zu der alten gutmüthigen Sennin, um für meine Mannschaft Trank zu holen. Bereitwillig, ja voller Freude, kam das alte Weiblein mit dem größten Stotzen voll Milch vor die Hütte. Hier versammelte ich die Gefährten um einen großen Stein und bewirthete sie nach Möglichkeit, indem ich das mitgebrachte Weißbrod spendirte, welches in der prächtigen, fetten Alpenmilch eingebrockt den hungrigen und durstigen Burschen unübertrefflich schmeckte.
Während nach diesem die Jungen ihr Pfeifchen rauchten, plauderte ich in der Hütte mit der guten Alten, welche die hellen Zähren weinte, indem sie mir erzählte, sie wäre mit ihrer Kuhheerde eben am andern Berg „hinaufgefahren“ auf die Weide, als unser Zug die Felsenwand erstieg. Sie habe aber nichts mehr sehen können, weil ihre Augen zu schwach seien. Allein als sie meine helle Stimme habe juchzen hören, da habe sie geweint und gebetet, unser lieber Herr Gott möge doch die brave liebe Nanna gesund erhalten. Die gute Alte sagte mir eine Schönheit nach der andern, bis ich mich ihrem Redefluß entzog, um draußen meine Begleiter aus ihrer Ruhe aufzurütteln; denn die Männer, nunmehr ohne Sorgen wie sie waren, sahen nicht die drohenden Wolken über den Parseirer Bergen aufsteigen, die unserer schönen Partie ein recht nasses Ende zu bereiten drohten.
Eilig und schon im Gehen sammelte ich für jeden der Männer noch einen Strauß auf den Hut. Der alte liebe Schützenmeister bekam schönes langes Farnkraut mit einer Zugabe von Alpenrosen, deren sich keiner der anderen zu erfreuen hatte. Den sanften Albert aber zeichnete ich dadurch aus, daß ich ihm seinen Bergstock nahm, denn meine Schuhe drückten mich ganz erbärmlich und es stand mir nicht mehr ferne, in Socken oder gar barfuß nach Hause gehen zu müssen.
Doch das hinderte mich nicht, in fröhlichster Laune von Seele abzuziehen. Wieder blies Bruder Hans im Takte auf der Harmonica, und so marschirten wir eiligen Schrittes thalauswärts; denn die Sonne war bereits hinter die Berge gegangen und wir hatten noch drei Stunden Weges zurückzulegen.
Und wirklich kam nach einstündiger Wanderung das Unwetter auch schon daher. Meine groben Schuhe hatte ich schon lange ausgezogen und wandelte nun vorsichtig, die spitzigen Steine vermeidend, am Arme des gutmüthigen Albert den schmalen Weg der Tugend, nämlich den Alpenweg heraus, der freilich nicht für meine verwöhnten Sohlen hergerichtet war. O, vor sieben Jahren ging das ganz anders dahin! Barfuß über Stock und Stein zu galopiren war mir wildem Mädchen damals ein Specialvergnügen! Doch von solchen Wonnen muß man lassen, wenn man einmal die geheiligte Schwelle eines Erziehungsinstitutes überschritten und die zügelnden Blicke der gestrengen Vorsteherin sich fürs ganz Leben eingeprägt hat.
Nunmehr aber regnete es aus allen Fenstern des Himmels, was uns auf die Länge sehr beschwerlich wurde. Durch und durch naß, gebeugt an Leib und Seele, erreichten wir nach zweistündiger Wanderung das Wirthshaus an der Länd. Damit war aber auch wieder geholfen – zuerst Bier für den Durst, dann Wein für den Humor, das spendete sich jeder in reichlichem Maße. Bald thauten die erstarrten Geister wieder auf; die Gläser klangen und jubelnd ließen wir alle Gemsen- und Adlerjäger, namentlich aber die Jägerinnen leben.
Als wir wieder aufgebrochen waren und an dem Häuslein des Dorfschulmeisterleins vorüber kamen, erinnerten wir uns, daß selber ein Klavier besitze. Und alsbald brachen wir, naß wie wir waren, in das Stüblein des Lehrers ein und thaten, als wenn wir da zu Hause wären. Der sanfte Albert ließ sofort einige Accorde erschallen und spielte dann einen herzbethörenden Walzer, der so ergreifend war, daß der alte lustige Schützenmeister, ganz ergriffen, mich ergriff und die üblichen drei Tänze tadellos heruntertanzte, was dem alten Manne gar niemand hätte zutrauen sollen. Das Schulmeisterlein war leider nicht zu Hause, hätte aber, wenn anwesend, an unserer Fröhlichkeit gewiß seine lautere Freude gehabt.
Doch war auch hier unseres Bleibens nicht, vielmehr zogen wir durch Schmuz und Wasser und unter strömen dem Regen, jedoch in bester Laune weiter und weiter und erreichten endlich auch unser liebes Untergieblen und bald darauf unser Häuschen, aus welchem die theuere Mutter sorgend uns entgegenkam, um uns, als sie alle wohlbehalten wieder sah, mit herzlichster Freude zu begrüßen. Nachdem sich die anderen zur Rast gesetzt, bereitete ich mit Schwester Therese einen duftenden Kaffee, und bald dampften zwei mächtige Töpfe dieses erwärmenden Getränkes mitten unter den Tellern, welche Butter und Käse und unser kräftiges Hausbrot zum Genusse boten.
Nachdem dieser Imbis, der allen trefflich schmeckte, eingenommen war, begaben sich die anderen, die nicht zum Hause gehörten, in ihre Wohnungen, wir aber und Albert, der unser Gast war, setzten uns auf die Sommerbank vor die Hausthüre. Da es wieder schön Wetter geworden, kamen auch die Nachbarn zu unserer Plauderei. Wir sprachen von dem erlebten fröhlichen Tage und gingen erst auseinander, als die alte hölzerne Wanduhr in der Stube zehn Uhr schlug.
Nun suchte auch ich mein Lager auf, konnte aber lange nicht einschlafen, denn so oft ich drum und dran war, kam mir immer vor, ich hinge wieder am Seile über dem Abgrunde. Bald flog der alte Adler heran, um mir sein Kind abzujagen – ich wehrte mich verzweifelt mit dem Haken und schlug mit dem Arme an die Wand. – Ich erwachte, um wieder einzuschlafen und gar noch den Strick zerreißen zu sehen. Ich fiel und fiel immer weiter in die Tiefe, ein jäher Schmerz durchzuckte meine Glieder – ich fiel auf und war – im Bette. Endlich aber siegte doch meine Müdigkeit, und ich schlief bis tief in den Morgen hinein, bis mir die Sonne endlich ins Gesicht schien und mich weckte.
Der junge Adler aber wächst, gedeiht und entwickelt einen solchen Appetit, daß ich wegen des Futters schon oft in Verlegenheit gerieth. Doch fand sich zuletzt immer wieder eine mitleidige Nachbarin, die mir eine alte Henne oder einen abgewürdigten Hahn zum Opfer überließ. Auch unter Hunden und Katzen findet sich manches Unkraut, das meinem Pflegling zugute kommt.
Bald wird nun der Händler kommen, um den mittlerweile recht stattlich gewordenen Aar zu kaufen, mit ihm in die Fremde zu ziehen und ihn der Welt zu zeigen. Und dann, ihr hohen und niederen Herrschaften, die dies gelesen, wenn euch der Wärter sagt, derselbe sei auf der Saxer Alm im Alberschoner Thal bei Elbigenalp, weit hinten im Lechthal, von einer jungen Lechthalerin gefangen worden, dann denkt mit Wohlwollen wieder der Verfasserin dieser Zeilen, die euch die Geschichte, die ihr vielleicht gern gehört, auch mit Vergnügen erzählt hat.“
Anmerkungen
- Es ist vielleicht noch nicht länger als 500 oder 600 Jahre, daß in den tirolischen Seitenthälern neben deutsch auch noch romanisch gesprochen wurde; daher die Namen wie Alberschon, alpaccione; Sax, saxum u.s.w. ↩︎
- Diese Stelle wolle der Beschauer des beigegebenen Bildes im Gedächtnis behalten, da sonst manche Linien in der Gestalt der Heldin etwas befremden dürften. ↩︎
Die Textedition folgt dem Erstdruck in der Leipziger „Illustrirten Zeitung“ vom 26. Dezember 1863. Hier ist auch die Illustration von Mathias Schmid abgedruckt. Lediglich die Zwischenüberschriften sind ergänzt.
Steub publiziert den Text 1874 erneut im dritten Band seiner „Kleinen Schriften“ unter dem Titel „Das Annele im Adlerhorst“, allerdings mit geringfügigen, zumeist stilistischen Änderungen und einigen Kürzungen.
Quellennachweis
[Ludwig Steub,] Die Lechthalerin im Adlerhorst. In: Illustrirte Zeitung Leipzig Nr. 1069 26.12.1863, S. 467, 470-472. Link zur Bayerischen Staatsbibliothek.
Ludwig Steub, Das Annele im Adlerhorst. In: Kleine Schriften. Tirolische Miszellen, Stuttgart: Cotta 1874, S. 117-141. Link zur Bayerischen Staatsbibliothek.
Verwendete Literatur
Frank Halbach: Die Geierwally. Von der Malerin zum Mythos. 16.10.2024. Podcast beim Bayerischen Rundfunk. Sendemanuskript beim Bayerischen Rundfunk.
Ulrike Hofer: Anna Stainer-Knittel und das Ferdinandeum. In: Wissenschaftliches Jahrbuch der Tiroler Landesmuseen 14 (2021), S. 25-33. Link zu zobodat (pdf).
Katja Mellmann: Wilhelmine von Hillerns Quellen für die Rundschau-Novelle Die Geier-Wally (1875). In: Jahrbuch Franz-Michael-Felder-Archiv 19 (2018), S. 122-139.