Der lateinische Physiologus: Wunder der Tierwelt
Der Text mit dem Namen „Physiologus“ wird in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts n. Chr. wahrscheinlich in Ägypten geschrieben und von Anfang an ohne Autorennamen verbreitet. Er enthält in seiner ersten Fassung 48 Kapitel, die sich mit wenigen Ausnahmen jeweils einem, manchmal auch mehreren Tieren widmen. Der Titel erklärt sich dadurch, dass physiologus auf griechisch „Naturforscher“ bedeutet.
Die ursprünglich in griechischer Sprache verfasste Schrift wird aufgrund ihres großen Erfolges schon bald in andere Sprachen übersetzt. Die lateinische Übersetzung, die wohl im Laufe des 4. Jahrhunderts n. Chr. entsteht, erfährt eine sehr große Verbreitung und wird dann für das gesamte Mittelalter eine der wichtigsten Quellen für die Beschäftigung mit der Tierwelt.
Anders als die heutige Biologie ist der „Physiologus“ jedoch nicht an einer vollständigen und gar systematischen Beschreibung eines Tieres interessiert. Stattdessen geht es vor allem um Besonderheiten und Auffälligkeiten, eben „Wunder der Tierwelt“.
Die Allegorese
Die Texte, die ihr übersetzt, sind nicht vollständig, sondern gehen im lateinischen Original noch weiter. Dabei werden die Tierbeschreibungen allegorisch gedeutet.
Bei der Allegorese handelt es sich um ein Verfahren der Textdeutung, das eine hinter dem Wortsinn verborgene, geheime Bedeutung vermutet. Sie muss vom Deutenden im Zuge der Interpretation erst erschlossen werden. Auf einer ersten, sichtbaren Ebene werden innerhalb einer Beschreibung oder eine Erzählung Handlungen, Menschen und Tiere präsentiert. Auf einer verborgenen zweiten Ebene befindet sich die eigentliche, übergeordnete Bedeutung.
Das Verfahren der Allegorese erfreut sich besonders im Christentum der Spätantike und des Mittelalters großer Beliebtheit. Mit ihrer Hilfe können auch Texte gelesen oder Naturphänomene betrachtet werden, die keine offenkundig christliche Bedeutung haben und unter Verdacht stehen, unbedeutend oder sogar moralisch bedenklich zu sein. Genau diese moralische Bedeutung wird durch die allegorische Textdeutung hergestellt.
So kommt es zur christlichen Auffassung vom „Buch der Natur“. Naturphänomene lassen sich, so die These, genauso wie die Bibel und andere religiöse Texte daraufhin „lesen“, wie sich Menschen verhalten sollen.
Illustrationen in den mittelalterlichen Handschriften
Viele der mittelalterlichen Handschriften des lateinischen „Physiologus“ selbst oder von Tierbüchern, die auf ihn zurückgehen, sind mit Buchmalereien illustriert. Einige dieser Handschriften sind online verfügbar und du kannst in ihnen blättern.
Suche dir eine Handschrift aus der folgenden Übersicht aus.
- Fürstenfelder Physiologus: Link zur Bayerischen Staatsbibliothek.
- Physiologus Bernensis: e-codices University of Fribourg.
- Thomas Cantipratensis, De naturis rerum liber: Link zur Bayerischen Staatsbibliothek.
Untersuche die Handschrift anhand der folgenden Fragen:
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