Die Heide als Touristenziel
„Heidefahrten“ mit August Freudenthal und Hermann Löns

Inhalt
„Heidefahrten“ mit August Freudenthal
Der Tourismus in die Lüneburger Heide beginnt, als man die abgelegene und dünn besiedelte Gegend mit der Eisenbahn erreichen kann. Auf einmal gilt die karge Landschaft als reizvoller Ausflugsort.
Es fängt alles ganz harmlos an. Seit Mai 1873 kann man von Bremen aus in östlicher Richtung nach Visselhövede und Soltau mitten in die Heide fahren. Die Strecke ist Teil der sogenannten Amerika-Linie, die Berlin mit den Seehäfen in Bremen und Hamburg verbinden soll. August Freudenthal, Journalist bei den „Bremer Nachrichten“ nutzt die Bahn lieber für Ausflüge in die Heide. Für ihn liegt das näher, er ist in Fallingbostel in der Südheide geboren und kennt die Gegend gut. Also berichtet er seinen Lesern, wie man die neue Bahnverbindung für Touren zu den Sehenswürdigkeiten der Gegend nutzen kann.
1890 erscheinen vier seiner Wanderrouten unter dem Titel „Heidefahrten“ als Buch. Damit nicht genug. Als Begleitband veröffentlicht Freudenthal „Die Heide. Stimmungs- und Lebensbilder in Dichtungen“ mit literarischen Beschreibungen der Heide. Alles ist dabei, von Weltliteratur bis zu Schartekenschreiberlingen, sogar Freudenthals eigene Gedichte.
Den Zeitpunkt für die Publikation hat Freudenthal mit Bedacht gewählt. Am 15. August 1890 geht nämlich eine weitere Bahnlinie in Betrieb, von Süden her, die Heidebahn, die Hannover als weitere Großstadt an die Heide anschließt. Fürs erste führt die Heidebahn nur bis Walsrode, aber die Weiterführung nach Soltau über Fallingbostel ist für die nächsten Jahre geplant. Da haben wir auf Jahre hin genügend Abnehmer für die „Heidefahrten“ – und die „Stimmungsbilder“ gleich mit!
In vier Tagesfahrten packt Freudenthal alle wichtigen Sehenswürdigkeiten. Wie es sich für einen Heimatforscher des ausgehenden 19. Jahrhunderts gehört, steht Bildungswissen im Vordergrund. Gleichzeitig benennt Freundenthal genau die Anlaufpunkte, die der großangelegte Heidetourismus der nächsten Jahrzehnte ansteuern wird. Und der Spaß kommt auch nicht zu kurz.
Tag 1: Soltau
Freudenthal steigt in Bremen in den Zug, dritte Klasse, und macht so seine Beobachtungen. Ein eitler Geschäftsreisender für Seifen und Parfüms, ein dralles Bauernmädchen, die verschämt seinen Blicken ausweicht, und ein aufdringlich-arroganter Berliner mit Zigarre. So ist das also mit dem Bahnfahren! Dann wird Soltau einer Besichtigung unterzogen, Freudenthal referiert über die Stadtgeschichte und erzählt gruselige Sagen aus dem Mittelalter.
Tag 2: Visselhövede
Diesmal ist Freudenthal mit Freunden unterwegs. Weil es schon um 5 Uhr morgens losgeht, ist die Truppe kleiner als geplant, einige verpassen den Zug. Merke: Wer Bahn fährt, muss pünktlich sein! Die Truppe steigt schon in Visselhövede aus und erkundet mit einem Pferdefuhrwerk, das sie beim örtlichen Gastwirt bucht, die Städte der Umgebung. Die Qualität der Steinschlagbahnen, Chauseeen und Heerstraßen, über die sie mit ihrem Fuhrwerk zuckeln, variert. Die Freunde klappern eifrig Städte, Schlösser und Kirchen ab. Touristen ist man nirgends gewohnt. In den Städten werden sie von „Hurrahrufen fröhlicher Schulkinder und dem Gekläff zahlreicher kleiner Köter“ empfangen. Und dann die Hitze! Die Ausflügler erquicken sich „an einigen Gläsern guten Bieres“.
Tag 3: Die Sieben Steinhäuser
Fünf Uhr morgens ab Bremen. Dann, in Soltau beim Gastwirt, das vorbestellte Gespann besteigen. Viel Gegend. Endlich, das Ziel, die „Sieben Steinhäuser“, Hünengräber, aufgetürmte Steindenkmäler mitten im Wald. Sie stehen schon seit Ewigkeiten, zwei haben Steinräuber vernichtet. Freundenthal ärgert sich über Steinkritzeleien, die ein Männergesangsverein hinterlassen hat. Schlimmer noch die „Spur des Herrn A.B., der sich mit der Jahreszahl 1887 über dem Eingange des Steinhaues in den Stein eingekratzt hatte.“ I was here. A.B. 1887. „Nun, es muss auch solche Käuze geben!“ Als das Fuhrwerk die Reisegesellschaft wieder in Soltau am Gasthaus abliefert, ist es längst Mitternacht. Erstmal eine Mütze voll Schlaf.
Tag 4: Wilseder Höhe
Am späten Vormittag geht es mit der leichten Kalesche gen Norden, zu den höchsten Punkten der Heide. Ziel ist die Wilseder Höhe. Bei guter Sicht kannst Du bis Hamburg, Harburg, Altona gucken! Kurz vorher ein Picknick, „mitten auf weltenlegener Heide“. Auf dem Weg nach Wilsede teilt sich die Reisegruppe. Einige wollen unbedingt zu Fuß durch die Heide. Wer’s mag. August bleibt lieber in der Kutsche. Man genießt die Aussicht. Wieder wird es spät. Freudenthals Gruppe gönnt sich nachts beim Gastwirt noch einige „Flaschen echten Soltauer Fruchtchampagners“ als Mitternachtstrunk.
Die zwei Fotos, die Augusts „Heidefahrten“ beigegeben sind, zeigen die wichtigsten Attraktionen: Die Wilseder Höhe und eins der sieben Steinhäuser.


August und seine Freunde sind die perfekten Touristen. Unterwegs mit Bahn und Kutsche. Viel sehen in kurzer Zeit. Vor allem Highlights: Hünengräber, Heidehöhe mit atemberaubender Aussicht. Zwischendurch tüchtig trinken und essen. Gut für Gastwirte und Pferdekutscher.

Der frühe Heide-Tourismus
Bald wird es voll in der Heide. Der Eisenbahn sei Dank. Ab 30. September 1901 ist die Heidebahn, die schon von Süden nach Norden ab Hannover bis Soltau die Heide erschließt, bis nach Hamburg verlängert. Jetzt sind alle drei Großstädte Bremen, Hannover und Hamburg an die Heide angeschlossen.
Zu den Sommerfrischlern, die für mehrere Tage in den Hotels und Kurhäusern weilen und Wandertouren unternehmen, kommen die Wochenendausflügler, die für eine Übernachtung eine billige Unterkunft brauchen. Die findigen Gastwirte bieten „Massenquartiere“ in Scheunen oder Strohlager mit Wolldecken auf dem Dachboden an. Freudenthals Heidefahrten laden wie erhofft zum Nachahmen ein. Zur Heideblüte im August und September sind besonders viele Leute unterwegs, die Sieben Steinhäuser und die Wilseder Höhe will jeder Besucher gesehen haben.
Damit nicht genug. Ab 1905 startet der Lüneburger Verkehrs-Verein großangelegte Werbekampagnen in Hamburg mit Plakaten und Zeitungsinserat, die gezielt Tagestouristen ansprechen. An einem Tag mit der Bahn hin und zurück. Je mehr Leute kommen, desto besser!
1904, kurz bevor die Werbemaßnahmen intensiviert werden, erscheint der erste richtige Bildband zur Heide: „Die Lüneburger Heide“ des Fotografen Richard Linde. Klar, Wilseder Höhe und Steinhäuser sind wieder mit dabei.


Das moderne Kupfertiefdruckverfahren und die viel bessere Auflösung ermöglichen Linde, fotografisch Stimmung zu erzeugen. Das macht er ausgiebig. Und legt die Motive fest, die von nun an immer wieder auftauchen, wenn von der Heide die Rede ist: Birken neben sandigen Wegen, Wacholderbäume, Heidschnucken mit Schäfer, blühende Heide.




Fehlt nur noch der Dichter, der die begleitende Urlaubslektüre für das neue Ausflugsziel verfasst. Das macht Hermann Löns.
Hermann Löns entdeckt die Heide
Hermann Löns wird am 29. August 1866 in Westpreußen geboren. Die Familie kommt eigentlich aus Westfalen, Vater Löns hat leider nur in weiter Ferne eine Stelle als Gymnasiallehrer bekommen. Zu den prägenden Kindheitserlebnissen, erzählt man, gehören Hermanns Ausflüge in die ortsnahe Tucheler Heide, wo er gerne umherzieht und sich mit der Pflanzen- und Tierwelt beschäftigt. Vater Löns will unbedingt zurück in die Heimat, aber das dauert.
Die ersehnte Versetzung nach Münster fällt in eine für Hermann eher ungünstige Zeit. Gerade 18 Jahre alt geworden kommt Löns mit dem Wechsel nach Westfalen nicht klar. Sein Abitur legt er mit Schwierigkeiten an Vaters Gymnasium ab. Danach versucht er sich, weiter unter väterlicher Aufsicht, an verschiedenen Orten in den verschiedensten Studiengängen. Vergeblich.
Löns bricht das Studieren ab und wird Journalist, mal hier, mal da, ab 1893 beim „Hannoverschen Anzeiger“. Seine Lokalberichte und satirischen Texte lesen die Leute in der Großstadt gerne. Löns ist bald im Kulturleben etabliert und erhält eine feste Redakteursstelle.
Und knüpft Kontakte. Seit Oktober 1895 gibt der Heidewanderer und Schreiberkollegen August Freudenthal zusammen mit seinem Bruder Friedrich das Heft „Niedersachsen. Halbmonatsschrift für Geschichte, Landes- und Volkskunde, Sprache und Litteratur Niedersachsens“ heraus. Löns ist fast von Anfang an mit dabei und veröffentlicht literarische Skizzen aus der Welt der Heide.
Im Heft 21 vom August 1897 erzählt auch Löns von einem Ausflug zu den Siebensteinhäusern, diesmal mit Horrorelementen. Wie Freudenthal beklagt Löns die Hinterlassenschaften des Tourismus, Müll und Graffiti: „Gleichgültigkeit hat den Boden mit Papier und Flaschenscherben besät, Dummheit schrieb ihre albernen Namen auf die ehrwürdigen Steinplatten.“ Löns sucht nach prähistorischen Überbleibseln und findet einen Feuerstein: „Schon wollte ich den Stein in die Tasche stecken, da breitete sich schwarze Finsternis über den Himmel, ein Blitz zuckte schwefelgelb über die Heide und grell knatternder Donner polterte wiederhallend durch die ängstliche Stille.“
Löns halluziniert, im prasselnden Sturmregen taucht ein Mann auf, „der über die Heide gekommen war und zu dem einsamsten der fünf einsamen Gräber ging.“ „Mühsam bückte er sich und hob die Scherben und Fetzen auf, die ein Geschlecht ohne Scheu und Scham um die Gräber seiner Vorfahren gestreut hat.“ Ein germanischer Grabwächter als umweltbewusster Müllsammler! Grusel. Zum Glück nur ein Traum, Löns war auf einem Steinhaus eingenickt. „Auf meinen Knieen aber glitzerte die steinerne Speerspitze, ein Geschenk des Alten für den einsamen Heidewanderer.“
August Freudenthal stirbt überraschend im August 1898, kurz darauf übernimmt Löns für zwei Jahre die Mitherausgeberschaft. August hat bis zu seinem Tod noch zwei weitere Bände mit Heidefahrten herausgegeben. Die laufen gut. Durch die Redaktionsarbeit erkennt Löns das noch ungenutzte literarische Potential der Heidelandschaft, die die Gebrüder Freudenthal vor allem als touristische Region erschließen. Da könnte man doch was draus machen!
Erst einmal bleibt Löns Zeitungsredakteur, ab und zu erscheinen jetzt Bücher mit seinen Naturschilderungen aus der Lüneburger Heide. Wie bei Freudenthal, nur ohne dessen schwergängigen Bildungsbalast. Dafür mit mehr Grusel.
Zum Inhaltsverzeichnis.
Zum nächsten Kapitel: Hermann Löns bastelt Volkslieder. Die Heide als „kleiner Rosengarten“.
Abbildungsnachweise
Freudenthal, August: Heidefahrten. Ausflüge in die hohe Heide und in das Flußgebiet der Böhme. Für Freunde der Heide, Bremen: Heinsius 1890. Link zum Internet Archive. Public Domain.
- Heidelandschaft bei Oberhaverbeck (Foto), neben dem Innencover
- Steinhaus bei Fallingbostel (Foto), S. 147
Freudenthal, August: Heidefahrten. Ausflüge in die hohe Heide und in das Flußgebiet der Böhme. Für Freunde der Heide. Zweite, durchgesehene Aufl., Bremen: Heinsius 1906, S. 121. Eigenes Foto.
Linde, Richard: Die Lüneburger Heide, Bielefeld: Velhagen und Klasing 1904. Link zur ULB Münster. Public Domain 1.0.
- Abb. 70 Birkenweg in der Osterheide bei Südbostel
- Abb. 71 Steingrab bei Südbostel
- Abb. 76 Herbstmorgen bei Fallingbostel
- Abb. 84 Steingrund bei Wilsede
- Abb. 96 Wacholderwald bei Wörme mit gehörnten weißen Schnucken
- Abb. 97 Wacholder auf freier Heide
Verwendete Literatur
Horst Brockhoff, Giesela Wiese, Rolf Wiese (eds.): Ja, grün ist die Heide … . Aspekte einer besonderen Landschaft, Ehestorf 1998.
Freudenthal, August: Heidefahrten. Ausflüge in die hohe Heide und in das Flußgebiet der Böhme. Für Freunde der Heide, Bremen: Heinsius 1890. Link zum Internet Archive.
- Hurrahrufe in Walsrode, S. 87
- Picknick bei Wilsede, S. 170
- Mitternachtstrunk, S. 179
Freudenthal, August: Die Heide. Stimmungs- und Lebensbilder in Dichtungen. Mit vielen bislang ungedruckten Beiträgen lebender Dichter, Bremen: Schünemann 1890. Link zum Internet Archive.
- S. 132: O schöne Zeit, o selige Zeit!
- S. 236: Up wiede Heide I. (Plattdeutsche Fassung von „O schöne Zeit, o selige Zeit“)
Brandes, Wolfgang: O schöne Tid, o selige Tid – Es war ein Sonntag hell und klar. Der außergewöhnliche Erfolg von August Freudenthals Gedicht. 1. Teil. In: Binneboom. Soltauer Schriften 29 (2023), S. 54-67.
Brandes, Wolfgang: 150 Jahre Eisenbahn in Soltau. Ein Verkehrsmittel ändert die Stadt. In: Binneboom. Soltauer Schriften 29 (2023), S. 82-90.
Linde, Richard: Die Lüneburger Heide, Bielefeld: Velhagen und Klasing 1904. Link zur ULB Münster. Public Domain 1.0.
Niedersachsen. Halbmonatsschrift für Geschichte, Landes- und Volkskunde, Sprache und Litteratur Niedersachsens. Herausgegeber: August und Friedrich Freudenthal, Bremen: Carl Schünemann. 1. Jg.1895/96. Link zur Bayerischen Staatsbibliothek.
Hermann Löns: Einsame Heidfahrt. In: Niedersachsen. Halbmonatsschrift für Geschichte, Landes- und Volkskunde, Sprache und Litteratur Niedersachsens 2. Jg. Nr. 21, 1. August 1897, S. 325-326. Link zur Bayerischen Staatsbibliothek.