Der Sound der Heide und das Kino
Komm wir gehen ins Kino. Was wird denn heute geboten, am Mittwoch, 1. Februar 1933? Schauen wir mal nach, in der Mittagsausgabe der Neuen Mannheimer Zeitung, weiter hinten auf Seite 8, da gibt es doch immer die Anzeigenseite mit dem Kinoprogramm. Die Namen der Kinos klingen wie ein Versprechen: Schauburg, Roxy, Scala, Capitol, Universum. Da ist bestimmt was für uns dabei.
Wir nehmen den Film mit der größten Anzeige. Das ist der Film, den man gesehen haben muss. Über den jeder spricht.
Grün ist die Heide – ein echter deutscher Heimatfilm!
Das populärste Lied von Hermann Löns, dem unsterblichen Sänger der Heide.
Das Lied kenne ich. Wenn abends im Rundfunk die Tanzmusik läuft, ist es immer mit dabei. Ja, der Löns und seine Heide. Traurig-schön. Jetzt im Tonfilm! Das will ich sehen.
Der Film läuft im Alhambra. Eigentlich eine maurische Burg in Andalusien. Der Duft der großen weiten Welt, hier vor Ort, bei uns in Mannheim, gleich ums Eck. Ein bisschen Orient und spanische Sonne. Ein bisschen Zauber der Vergangenheit und Exotik. Eintritt mit einem Kinoticket.
Die Geschichte klingt spannend. Ein Liebesroman, eine Wilderergeschichte, Heideblüte voller Geheimnisse. Und das alles in nur einem Film. Und so viel Gefühl! Alle sind irgendwie hin- und hergerissen. Oder von Leidenschaften getrieben.
Interessant finde ich auch die drei Vagabunden. Die ziehen durch die Heide und kriegen alles mit. Niemand macht ihnen Vorschriften, sie haben immer frei. „Monarchen der Heide“ heißen sie. Das wäre ich auch gerne, ein Monarch der Heide!
Viele Stars! Die schöne Camilla Spira, endlich mal wieder Theodor Loos, der kann so gruselig gucken. Und Fritz Kampers und Paul Beckers! Das wird lustig, das sollen tolle Komiker sein!
Der Film ist für die ganze Familie, schau, Jugendliche können wir mitnehmen! Und wenn wir in die Nachmittagsvorstellung gehen, kostet es auf allen Plätzen nur 70 Pfennig. Die habe ich wohl noch übrig.
Guck, vorneweg ein erstklassiges Vorprogramm, alles mit Ton! „Ein Militärschwank zum Totlachen“. Prima! Und ein Kulturfilm: Wollte immer schon mal wissen, wie das in Potsdam aussieht. Endlich bekommt man mal Bilder zu sehen.
Da gehen wir hin – – –
Als der Film in Mannheim ankommt, hat er schon einen Siegeszug durch die deutschen Kinos hinter sich, mit dem niemand gerechnet hat. Die Ankündigung der Stuttgarter Erstaufführung im Universum am 30. November 1932, eine Woche nach der Uraufführung in Hannover, weckt nicht geringe Erwartungen:
Die Werke von Herrm. Löns erschienen in Millionen Exemplaren. Des deutschen Volkes populärstes Lied, das „Heidelied“, fand in Millionen Schallplatten weiteste Verbreitung. Ein Film dramatischer Spannung von der deutschen Heide, dem deutschen Menschen, ein wahrer deutscher Heimatfilm.
Stuttgarter Neues Tagblatt 28.11.1932, S. 10.
Die Erwartungen werden nicht enttäuscht. Als der „Großtonfilm nach Hermann-Löns-Motiven“ am 13. Januar 1933 im Universum in Bielefeld ankommt, ist der Standardwerbetext für die Kinobetreiber um eine Publikumsstatistik erweitert, die ihresgleichen sucht. Der Film schlägt alle Besucherrekorde. Wer will da nicht mit dabei sein?
Heute 4 Uhr (Kassenöffnung 3,15 Uhr). Beginn der Hermann-Löns-Festaufführung.
Inmitten der blühenden Heide, deren unsterblicher Sänger Hermann Löns war, erfüllt sich das Schicksal dieser Menschen. Die verschlossenen Menschen der deutschen Heide, der harte Schlag der Niedersachsen geben dem Film den Charakter. Dieser Film hat im Sturm alle Herzen erobert. Ein märchenhafter Reiz geht von ihm aus und zog magnetisch die Menschen an.Hannover 6 Wochen Erstaufführung bisher über 65 000 Besucher (läuft noch) Bremen in 3 Wochen bisher über 50 000 Besucher
Westfälische neueste Nachrichten mit Bielefelder General-Anzeiger und Handelsblatt 13.01.1933, S. 4.
Leipzig 6 Wochen über 70 000 Besucher
Dresden 6 Wochen über 70 000 Besucher
Halle/ Saale setzte den Film gerade ein und hatte in zwei Tagen 5282 Besucher!
Düsseldorf lief er vorgestern an und war dauernd ausverkauft!
Außerdem, so erfahren wir in der Bielefelder Anzeige, bietet uns der Film auch noch hervorragende Musik: „Drei der populärsten Lieder aus dem „Kleinen Rosengarten“ sind im Film vertont“. Neben dem Titelsong „Grün ist die Heide“ bekommen wir „Auf der Lüneburger Heide“ und „Wenn der Birnbaum blüht“ zu hören.
Moment mal. Wir haben 2024, nicht 1932. Das wird mir jetzt zu viel. Hermann Löns? Der kleine Rosengarten? Das populärste Lied der Deutschen? Millionen verkaufter Schallplatten? Ich komme da nicht mehr mit. Und überhaupt. Verschlossene Menschen deutscher Heide? Kampers, Beckers, Blume? Festaufführung, märchenhaft? Was soll das denn?
Fragen über Fragen. Es wird Zeit für Antworten.
Die wichtigste Frage: Wie wird „Grün ist die Heide“ zum „populärsten Lied der Deutschen“? Darin enthalten und immer mitgemeint: Was macht ein Lied zum Popsong?
Erstmal beantworten wir ein paar andere, naheliegendere Fragen. Dann können wir die Popsong-Frage klären. Eins nach dem anderen.
Frage 1: Was soll das mit der Heide? Wir begeben uns in die Welt des Tourismus, so wie er um 1900 stattfindet. Journalisten reisen mit der Bahn aus Bremen und Hannover in die Lüneburger Heide. Dort begeistern sie sich für blühende Heidesträucher, vorzeitliche Steingräber und alkoholische Spezialitäten der Heidewirte. Schnell wird ein Trend draus.
Frage 2: Wer ist dieser Hermann Löns? Wenn von „Hermann Löns, dem unsterblichen Sänger der Heide“ die Rede ist, ist meistens etwas ganz anders gemeint. Wir befassen uns mit dem Etikettenschwindel, der unter seinem Namen läuft. Gut, Löns hat kurz vor seinem frühen Tod im ersten Weltkrieg Gedichte und Romane über die Heide geschrieben. Aber Karriere machen damit andere: Karl Blume, ein Komponist, der mit der Gitarre durch die Konzertsäle des Land zieht. Und Friedrich Castelle, ein Journalist, der sich auf Vortragsreisen einen Namen als charismatischer Löns-Deuter macht.
Frage 3: Was ist „ein echter deutscher Heimatfilm“? Wir verfolgen die abenteuerlichen Wege, die der Löns-Kult nimmt, bis am Ende ein abendfüllender Spielfilm draus wird. Ab 1916 gibt es Löns-Gedächtnisfeiern, bei denen Castelle Löns‘ bitteres Dichterschicksal beschwört. Die Leute hängen ihm an den Lippen. Für den Rundfunk tut er sich 1927 mit Karl Blume zusammen. Der spielt Löns-Lieder auf seiner Gitarre. Ein Riesenerfolg. Ab 1928 gehen die beiden mit einem Paket aus Vortrag, Livemusik und Heide-Dokumentarfilm auf Tour. Sie schlagen alle Publikumsrekorde. Als Berliner Filmleute 1932 einen Tonfilm daraus machen, jetzt mit fiktionaler Handlung, nennen sie ihn „Heimatfilm“ und definieren damit eines der beliebtesten deutschen Filmgenres.
Auf unserer Reise durch die Zeit lernen wir vergessene Rituale und Orte kennen. Gedächtnisfeiern, weihevoll, ernst und getragen. Sonntagsmatinees, für die ganze Familie. Varietés in Bahnhofsnähe mit Rote-Mühle-Girls und Jig-Walk-Boys. Tanztees in schicken Dachgärten.
Technische Neuerungen sind unser ständiger Begleiter. Wir lesen Zeitung, täglich neu, manchmal sogar morgens und abends. Agenturmeldungen, Reportagen, Berichte, den Anzeigenteil mit Unterhaltungsprogramm. Anfangs sind wir noch mit Kutsche und gemütlich zuckelnder Bahn unterwegs. Dann geht es Schlag auf Schlag. Noch müssen wir Rundfunksender mühsam mit selbstgebastelten Kristalldetektoren anpeilen. Störgeräusche inklusive. Bald gibt es deutschlandweiten Rundfunkempfang, bis spät in die Nacht flotte Tanzmusik mit Jazzelementen. Auf den Theaterbühne treten Vortragsreisende im Wechsel mit Monumentalfilmen auf. Kolossal. Man kann sich ein Grammophon kaufen und Schellackplatten drauf hören. Dann kommt der Tonfilm. Atemberaubend, viel zu schnell.
Am meisten überrascht die Sprache. Da muss man stark sein. Sänger greifen einem ans Herz. Der Kapellmeister bittet zum Tanztee, mit der Brille bewaffnet. Vielgewandte Hexenmeister zaubern Welten hervor. Sendestellen machen Rundfunk. Kameras schnurren. Vortragskünstler reißen ihre Zuhörerschaft fort. Schlichte Feiern, Herzen in Schwingungen. Kraftwagen treten in Karawanen den Rückzug an. Ein Vokabular aus einer vergangenen Welt. Emotional und erbarmungslos zugleich. Mal den Gefühlen ausgeliefert, dann wieder nüchtern und kühl-distanziert, oft schneidend-militärisch. Schwer auszuhalten.
Treten Sie ein. Die Show beginnt!
– – – Moment. Mittwoch, 1. Februar 1933. War da nicht noch was? Ach, im Politikteil. Eigentlich will ich mich ja unterhalten lassen. Na gut. Gucken wir nach. Was sind die Schlagzeilen von heute?
Seite 1 der Mittagsausgabe der Neuen Mannheimer Zeitung, 1. Februar 1933. Ein großes Foto ganz oben, „Die Männer des neuen Reichskabinetts“, Hitler mittendrin. Zwei Tage vorher hat ihn Hindenburg zum Reichskanzler ernannt, er und seine Leute errichten gerade eine Diktatur, inszeniert als Rückbesinnung auf alles Deutsche. Puh. Scheint so, als kann ich mich nicht einfach nur unterhalten lassen. In der Alhambra läuft ein „echter deutscher Heimatfilm“. Ob Absicht oder nicht, das Mannheimer Kinoprogramm klingt irgendwie zu sehr wie die musikalische Untermalung zum Aufbau der Nazi-Diktatur.
Also noch eine vierte Frage: Ist „Grün ist die Heide“ etwa der Soundtrack zur Machtergreifung der Nazis? Darin enthalten und mitgemeint: Wie hängt Unterhaltung mit Politik zusammen? Liefert sie eine Vorahnung? Ist sie Teil des politischen Programms? Gar eine Parallelaktion? Oder ist das alles nur Zufall? Man wird sehen.
Zum Inhaltsverzeichnis.
Zu Kapitel 2: Die Heide wird Ausflugsziel. Touristen in Bahn und Kutsche
Abbildungsnachweis
Anzeige zur Erstaufführung „Grün ist die Heide“ in der Alhambra Mannheim. Neue Mannheimer Zeitung 01.02.1933, Seite 8. Link zum Deutschen Zeitungsportal. Creative Commons 4.0.
Verwendete Literatur
Recherche im Deutschen Zeitungsportal.
- Stuttgarter Neues Tagblatt 28.11.1932, Seite 10: Anzeige zur Erstaufführung des Films „Grün ist die Heide“.
- Westfälische neueste Nachrichten mit Bielefelder General-Anzeiger und Handelsblatt 13.01.1933, Seite 4: Anzeige zur Hermann-Löns-Festaufführung.
- Neue Mannheimer Zeitung 01.02.1933 Mittags-Ausgabe, Seite 8: Anzeige zur Erstaufführung des Films „Grün ist die Heide“, Seite 1: „Die Männer des neuen Reichskabinetts“.