Die Heide im Tanzcafé: Dank Adalbert Lutter in Berlin


Die Heide im Tanzcafé: Dank Adalbert Lutter in Berlin

Dass es in Berlin doch noch klappt, liegt an Adalbert Lutter. Dem Sohn von Karl Blumes erstem Violinenlehrer, damals, vor vierzig Jahren in Osnabrück. So ein Zufall. Gute Freunde muss man haben! Unglaublich, aber wahr.

Das kommt so. Adalbert Lutter ist wie Karl Blume gebürtiger Osnabrücker und drei Jahre jünger. Er gründet eine Tanzorchesterband, wandert 1922 nach Argentinien aus und spezialisiert sich vor Ort auf Tangomusik. Als er 1928 nach Deutschland zurückkehrt, weiß er, wie man das hiesige Publikum mit exotischen Sounds begeistern kann. Bald spielt er in den ersten Häusern am Platz – und im Rundfunk.

Am 10. Juli 1930 inseriert der Tanzpalast Tabaris auf der Düsseldorfer Königsallee im Stadtanzeiger „Adalbert Lutter mit seinem argentinischen Tangoorchester aus Buenos Aires“: „Das Tagesgespräch von Düsseldorf.“ Das muss man gesehen haben! Wenige Wochen später, am 31. Juli ist schon die WERAG live dabei: „Heute Rundfunkübertragung der Kapelle Adalbert Lutter“. Es gibt „Bargetränke – Mokka – Pilsener Urquell.“ Spätestens jetzt knüpft der Düsseldorfer Karl Blume Kontakt zu seiner Jugendbekanntschaft aus Osnabrück. Musiker kommen ja schnell ins Gespräch in den Kabaretts und Tanzlokalen der Stadt.

Ab Oktober 1930 finden wir Lutter in Leipzig. Die Stadt bekommt nicht genug vom „Jazz-y-Tango-Orquestra tipica argentina“, das Engagement im CT-Kaffee wird bis Januar 1931 immer wieder verlängert. Nach einer Stippvisite im Düsseldorfer Tabaris geht es für Lutter ab August 1931 nach Hannover in die Rote Mühle an der Schillerstraße. Deutsch für Moulin Rouge, mit ähnlichem Programm. Es treten auf: Die Rote-Mühle-Girls unter Stella Joulotte. Mia Elis, Vortragskünstlerin. Heinz Bulmann, Opern- und Operettentenor. The Mongadis, Lachen ohne Ende. Low und Rics, Comedy-Act. Dussy and Dussy, die musizierenden Zwillingschwestern. Max Tischauer mit seinen Jig Walk Boys. Aber das ist alles nicht im Vergleich mit Adalbert Lutter.

Der Hannoversche Kurier gerät ins Schwärmen über die „musikalische Sensation“, „einschmeichelnd tönt die Musik dieser einzigartigen Kapelle, die wir mit zu den allerallerersten Zusammenstellungen am deutschen Tanz- und Musikhimmel des Kabaretts und der großen Hotelhallen rechnen“ (09.08.1931). Adalbert Lutter, ein Mann, fast in Uniform. „Mit einer Brille bewaffnet, und wenn er am Flügel sitzt, wie ein Privatdozent aussehend. Und irgendwann zwischen Fox und Tango gibt es dann auch ein paar stille Minuten, mit dem Wolgalied oder mit anderen diskret und weich gespielten Sachen. Es ist gut, eine gute Kapelle zu haben, aber es ist schwer, eine bessere zu finden. Eine bessere als die von Adalbert Lutter“ (09.09.1931).

Es dauert nicht lange, und schon meldet sich der Rundfunk, diesmal die NORAG, die nordische Rundfunk-AG. Vorbei sind die Zeiten von „Jazz-y-Tango-Orquestra“, jetzt spielt Lutter alles für alle, am 23. September 1931 gibt es ein „Populäres Konzert. Tanzfunk der Kapelle Adalbert Lutter“, live aus der Roten Mühle.

Die Show geht weiter bis November. „Der letzte Monat! Adalbert Lutter mit seinen Künstlern beendet mit dem Monat November sein Gastspiel in der Roten Mühle. Sein Spiel im Rundfunk hat ihn allen Hannoveranern nahegebracht, und passionierte Tänzer schätzen ihn wegen seiner exzellenten Tango-Reproduktion. Wer noch einmal unter seiner musikalischen Regie tanzen und dazu ein ausgewähltes Programm sehen möchte, der versäume nicht, in diesem Monat die Rote Mühle zu besuchen!“ (15.11.1931).

Für ein Abschiedskonzert am 17.11. ist wieder die NORAG dabei. Könnte sein, dass Lutter das bekanntesten Lied seines Freundes Blume, „Grün ist die Heide“, extra etwas häufiger gespielt hat. Wer weiß das schon? Jetzt entscheidet das Publikum. Und dessen Lieblingslied steht fest.

Abschiedskonzert der Kapelle „Adalbert Lutter“ im nordischen Rundfunk. Zahlreichen Wünschen aus den Kreisen der Hörer zufolge wird die Kapelle Adalbert Lutter von der Roten Mühle am Dienstag, dem 17. November, nachmittags 4,30 Uhr, im hiesigen Sender ein Konzertprogramm geben, auf welchem u. a. verschiedene in den letzten Tagen geäußerte Wünsche der Hörer (Grün ist die Heide, russische Motive und andere sinfonische Bearbeitungen von Lula Kletsch) erfüllt werden.

Hannoverschen Kurier vom 17. November 1931, S. 6

Tango, Jazz, Wolga-Weisen, Foxtrott. Egal. Am liebsten hören die Leute „Grün ist die Heide“. Du kannst zuhause am Detektor mit dabei sein!

Wichtig: Adalbert Lutter bietet „sinfonische Bearbeitungen“, von seinem Hausarrangeur Ludwig „Lula“ Kletsch mit leichter Hand gesetzt. Die Kapelle spielt nicht einfach nur eine Melodie. Sie wird variert und nacheinander in verschiedenen Stilrichtungen interpretiert. Fast wie eine richtige Sinfonie. Obwohl es nur ein einziges Lied ist.

1932 startet Adalbert richtig durch. Er wird ein Star in Rundfunk und auf Grammophon. „Grün ist die Heide“ ist ganz vorne mit im Gepäck. Berlin macht’s möglich.

Ab März 1932 ist Adalbert Lutters Truppe Hauskapelle im Europa-Pavillon an der Stresemannstraße in Berlin-Kreuzberg, dem neuesten Vergnügungslokal der Stadt. Das Europahaus ist gerade erst fertiggestellt, im topmodernen Stil der Neuen Sachlichkeit. Der Pavillon eignet sich gut für Rundfunkübertragungen. Einmal pro Woche wird Lutters Tanzmusik von dort aus live in ganz Deutschland gesendet! Das geht jetzt ganz professionell, die Zeit der Störteufel ist vorbei. Die Funk-Stunde Berlin verantwortet die Liveaufnahme. Entweder die Deutsche Welle, deren Sender in Königswusterhausen deutschlandweit zu empfangen ist, oder lokale Sender wie die WERAG übernehmen per Relaisschaltung die Livesendung. Ganz Deutschland hört Lutter. Und hört „Grün ist die Heide“.

Schon bald darauf nimmt die „Deutsche Grammophon“ den begehrten Kapellmeister Lutter für eine Schallplatte mit „Grün ist die Heide“ unter Vertrag. Die wird gerne gekauft, für Zuhause, zum Nach- und Immerwiederhören auf dem Grammophon. Sentimental, tränenselig, zum Heulen schön. Rührend.

Die Grammophon-Aktiengesellschaft Berlin veröffentlicht unter der Nummer 863 etwas ganz Besonderes. Lutters Tanzorchester spielt die Blumes Melodie in allen möglichen Stilvariationen hintereinander, von sentimental bis jazzig, mittendrin auch mal mit Gesang. Man nennt das „symphonische Paraphrase“, für Lutter in Noten gesetzt von Ludwig Kletsch, über A- und B-Seite der Schellackplatte hinweg. Klingt wie der Soundtrack zu einem frühen Micky-Maus-Cartoon, in dem die Zeichentrickfiguren in Bild und Ton zugleich von einem Gefühlsüberschwang in den nächsten wechseln. Die Zeitungen berichten:

Noch mehr Amüsantes: eine symphonische Paraphrase, arrangiert von Herrn Kletsch über die populäre Vertonung Blumes „Grün ist die Heide“. Es trieft von Stimmung und eigentlich ist die Aufnahme natürlich gar nicht komisch. Man wird sogar darüber weinen, will man sich mal ordentlich rühren lassen. Gespielt wird solches von Adalbert Lutters Künstler=Orchester.

„Neue Schallplatten“. Dortmunder Zeitung 13.06.1932, S. 14.

Das überraschende Rezept für ein beliebte Schallplatte im Jahre 1932: Alles durcheinander, verspielt und möglichst unernst! Die Blume-Melodie erst als Walzer, dann als Marsch, schließlich geschickt verjazzt. Zwischendurch lässt die Klarinette augenzwinkernd einen Kuckuck rufen. Der Gesang kommt erst später, die Einzelstimme mit Männerchor im Wechselspiel. Unfassbar!

Das funktioniert so gut, dass wenig später die „Telefunken“ an Lutter herantritt und ihn für eine zweite Einspielung, jetzt auf einer Telefunken-Schallplatte, bucht. Die Kasse klingelt.

Ganz zu schweigen von den vielen Nachahmern. Ob Tenor oder Bariton, verschiedene Sänger versuchen sich an einer Interpretation. Zusätzlich gibt es reine Orchesterplatten, andere Kapellmeister versuchen sich an eigenen Arrangements. Vielen Leuten ist ja auch egal, von wem die Schallplatte stammt. Sie wollen nur das Lied. Also sorgt jede Plattenfirma dafür, dass sie mindestens eine Version des Liedes anbieten kann.

Für Lutter geht es munter weiter. Ihm gelingt der Karrieresprung mitten in das Berliner Vergnügungszentrum am Bahnhof Zoo! Dort gibt es ein großes Unterhaltungsviertel: Variéte, Tanz und Kabarett in den Wilhelmshallen, den Ufa-Palast am Zoo für die neuesten Filme. Direkt daneben, gegenüber von der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, ist 1929 gerade ein großer Neubau entstanden, im futuristischen Look der Neuen Sachlichkeit. Er heißt erst Haus Gurmenia, ein sperriges Wortspiel, gebastelt aus Gourmet und Germania. Dann, ab 1931 und nach einer Insolvenz, lieber doch Haus Germania.

Hinter der einheitlichen Fassade aus großen Fenstern verbergen sich verschiedene Lokale mit dem Flair der weiten Welt: American Buffet, Conditorei Cafe Berlin, Weinrestaurant Traube mit subtropischem Garten, Bierstube Pilsen, ein englischer Tee-Salon.

Der Clou ist die die Dachterasse mit Wintergarten, betrieben von Fritz Ungers Konditorei. Sie bietet fantastische Auftrittsmöglichkeiten für moderne Tanzkapellen.  

Hier, auf dem schicksten Dachgarten Berlins, spielt Lutter täglich zum Nachmittags-Tanztee auf. Alles dank „Grün ist die Heide“!

Und siehe da, der Weg zum Erfolg war ihm geebnet, denn eine Kapelle, die eine derart einschmeichelnde und kultivierte Art des Vortrags hatte und so gute Arrangements wie das der „Grünen Heide“ spielte, mußte unbedingt gefallen. Jetzt reihte sich Erfolg an Erfolg. Die junge Telefunken-Schallplatten-Gesellschaft sicherte sich Adalbert Lutter für ihre Produktion, das Radio tat das Seinige – und jetzt spielt Adalbert Lutter mit den Seinen persönlich nachmittags zum Tanztee und abends auf Fritz Ungers Dachgarten Berlin.

„Die Kapelle für Telefunken“. Vorwärts 07.10.1932, S. 7

Unfassbar. In dieser ultramodernen Umgebung wird „Grün ist die Heide“ zum ganz großen Hit! Die neuste Architektur, optisch ein Vorgriff auf die kühlen Vernunftbauten der fünfziger Jahre. Moderne Säle, Gärten über den Dächern der Großstadt, für Verpflegung und Getränke wird gesorgt. Aktuelle Technik, der Rundfunk überträgt live. Germania ist bloß ein Wort. Es wird zu Gurmenia und zurück, einfach so, nirgends sauertöpfisch-spaßbefreiter Nationalismus oder selbstherrlicher Germanenkult. „Grün ist die Heide“, das ist: Gefühl, Stimmung, zusammengebaut aus alten Volksliedern. Ein Popsong, von dem sich jeder gerne bewegen lässt.

Ganz zurückgedrängt scheint das Nationale und der Militarismus, zwei Phänomene, die das Lied bis hierhin wie ein Schatten begleitet haben. Alles bloß Kulisse für gute Unterhaltung. Männer in Uniform, Jäger auf der Pirsch. Wehrwölfe, die erbarmunglos ihr Land verteidigen. Das Dichtergenie Löns und sein Tod im Schützengraben. Das bodenständige, alturwüchsige Volkstum der Lüneburger Heide. Ist doch nur ein Lied. Wir genießen die Stimmung. Bei Kaffee und Kuchen. Zum Tanz. Jazz, Tango, Wolgalieder. Mittendrin das populärste Lied der Deutschen, „Grün ist die Heide“, Walzer, Marsch und Jazz in einem.

Zum Inhaltsverzeichnis.

Zu Kapitel 8: „Grün ist die Heide“ wird Heimatfilm: Drehbuch und Last-Minute-Casting.

Verwendete Literatur

  • Düsseldorfer Stadt-Anzeiger 10.06.1930, S. 8: Anzeige des Tabaris
  • Düsseldorfer Stadt-Anzeiger 31.07.1930, S. 8: Anzeige des Tabaris
  • Leipziger jüdische Wochenschau 10.10.1930, S. 5: Anzeige des CT-Kaffee
  • Düsseldorfer Stadt-Anzeiger, 30.05.1931, S. 4: Anzeige des Tabaris
  • Hannoverscher Kurier, 09.08.1931, S. 13: „Lutter spielt. „Rote Mühle“ im August.“
  • Hannoverscher Kurier, 09.09.1931, S. 10: „So ist’s richtig. „Rote Mühle“ im August.“
  • Hamburger Fremdenblatt, Abendausgabe 22.09.1931, S. 6: Rundfunkprogramm für Mittwoch, den 23. September.
  • Hannoverscher Kurier, 15.11.1931, S. 26: „Der letzte Monat!“
  • Hannoverscher Kurier, 17.11.1931, S. 6: „Abschiedskonzert der Kapelle „Adalbert Lutter“ im nordischen Rundfunk“
  • Süderländer Tageblatt, 04.03.1932, S. 6: Rundfunkprogramm der Deutschen Welle, Adalbert Lutter am Freitag 11.03.1932
  • Dortmunder Zeitung 13.06.1932, Seite 14: „Neue Schallplatten“. Adalbert Lutters Künstler-Orchester spielt „Grün ist die Heide“ (Deutsche Grammophon-Gesellschaft 863).
  • Hallische Nachrichten 25.06.1932, Seite 15: „Neue Schallplatten“. Adalbert Lutters Rundfunkorchester spielt „Grün ist die Heide“ (Grammophon).
  • Vorwärts 07.10.1932, Seite 7: „Die Kapelle für Telefunken“. Adalbert Lutters Erfolge.
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