Die Heide am Rhein: Friedrich Castelle und Karl Blume beim Rundfunk in Düsseldorf
Inhalt
- Karl Blume als Rundfunkpionier
- Friedrich Castelle und seine Löns-Gedächtnisfeiern
- Löns-Gedächtnis im Rundfunk: Blume und Castelle als Team
- Löns-Gedenksteine: Politik und Militarismus
Karl Blume als Rundfunkpionier
Der Rundfunk kommt eher holprig an im Gebiet von Rhein und Ruhr. Die „Westdeutsche Funkstunde AG“ (WEFAG) nimmt ihren Sendebetrieb am 10.10.1924 im abgelegenen Münster auf. In der seit 1921 entmilitarisierten Zone des Rheinlands, die durch den Einmarsch französischer und belgischer Truppen im September 1923 auf das Ruhrgebiet ausgedehnt wird, ist der Rundfunkbetrieb nämlich verboten. Damit Rhein und Ruhr trotzdem mithören können, gehen am 18. und 19.9.1925 die Sendestellen Dortmund und Elberfeld in Dienst. Das Programm kommt täglich wechselnd live aus einem der drei Senderäume. Der dazugehörige Sendeturm ist jeweils Hauptsender, die anderen strahlen dessen Funksignal per Relaisschaltung in den anderen Sendegebieten aus.
Erst im September 1925 ist ein Rundbetrieb möglich, der eine nennenswerte Zahl von Hörern erreicht. Karl Blume ist von Anfang an mit dabei, eine Woche nach Start, am 25. September 1925, im Senderaum Elberfeld. Das lässt aufhorchen. Es steht in der Zeitung:
Westdeutsche Funkstunde A.-G. Münster. Freitag, den 25. September 1925. 9.30 Uhr abends: Lieder zur Laute (Karl Blume, Düsseldorf). (Übertr. aus Elberfeld)
Dortmunder Zeitung 24.09.1925, S. 10
Die dürre Notiz zeigt vor allem eins: Blume hat plötzlich einen entscheidenden Vorsprung im Wettbewerb der Unterhaltungsangebote. Er bespielt das Medium Rundfunk als einer der ersten, lernt vor dem Mikrophon zu singen, solange das Publikum noch klein ist, und feilt in aller Ruhe an seiner radio voice.
Das zahlt sich aus. Die schwierige Empfangssituation für den Rundfunk an Rhein und und Ruhr ändert sich zum 01.01.1927, als die jetzt so bezeichnete „Westdeutsche Rundfunk AG“ (WERAG) ihre Zentrale in Köln bezieht und ab dem 15.01.1927 den topmoderne Sender Langenberg in Betrieb nimmt. Er bedient per Mittelwelle das ganze Rheinland und Westfalen. Und ist der reichweitenstärkste Sender in ganz Europa, mit etwas Glück kannst du ihn sogar in Übersee hören, auf jeden Fall weit über das Rheinland hinaus in ganz Deutschland.
Wieder gehört Blume zu den ersten, deren Stimme und Musik über den reichweitengestärkten Äther geht. Mitte März 1927 tritt er im neuen Senderaum Düsseldorf auf, Langenfeld sendet. In der Presse, die jetzt das Rundfunkprogramm ausführlich bespricht, bekommt seine Show großes Lob. Und dass, obwohl beim Sender Langenfeld die Störteufel dazwischenspuken. Dabei habe ich doch eifrig die Kristalle meiner Detektoren geputzt! Von wegen „Unterhaltungs-Rundfunk“!
In diesen Tagen wird man wohl eifrig die Kristalle der Detektoren geprüft und gesäubert haben, oder man hat verzweiflungsvoll Spulen und Röhren untersucht— und dennoch hörte man Langenberg nicht oder nur sehr schlecht. Doch lag dies nicht an den Empfangsgeräten, sondern Langenberg wurde rückfällig, d. h. es traten während einiger Tage wieder mehr oder weniger große Störungen in Erscheinung. Hoffentlich gelingt es recht bald, die „Störteufel“ aus dem Sendehaus für immer zu verjagen.
Karl Blume, der bekannte Sänger zur Laute, ein Künstler, der wirklich Eigenes zu sagen hat und dem zuzuhören man nicht so leicht ermüdet, gab einen Abend in Düsseldorf. Er flocht einen entzückenden Kranz feiner, schelmischer Lieder. Besonders gut wirkten auch seine eigenen Kompositionen, Vertonungen Lönsscher Poesie, darunter das vielgesungene „Geheimnis“ („Ja, grün ist die Heide“).
Echo der Gegenwart, 19.03.1927, S. 13
Das „Geheimnis“ ist zu diesem Zeitpunkt schon so etwas wie ein Hit. In Klammern steht extra der Refrain dahinter, damit du es auch wiedererkennst. Du hast es bestimmt auch schon gesungen!
„Vertonungen Lönsscher Poesie“. Der Weg zum ganz großen Erfolg. Aber auch hier ist die Konkurrenz groß. Dass Blume damit der große Durchbruch gelingt, liegt an Friedrich Castelle.
Wie jetzt? Wer?
Friedrich Castelle und seine Löns-Gedächtnisfeiern
Friedrich Castelle ist der Erfinder der Löns-Abende. Die sind 1927 ganz groß in Mode und werden überall in Deutschland nach einem ähnlichen Muster veranstaltet.
Es fängt alles ganz harmlos an.
Castelle, ein Jahr jünger als Karl Blume, startet als Journalist, ab 1904 im Feuilleton des Münsterschen Anzeigers, später auch bei anderen Zeitungen. Sein Studium an der Universität Münster schließt er erst 1906 mit einer Promotion über Eichendorff ab.
Ab 1913 übernimmt Castelle von Düsseldorf aus die Schriftleitung des Monatshefts Deutschland. Organ für die deutschen Verkehrs-Interessen. Amtliche Zeitschrift des Bundes Deutscher Verkehrs-Vereine. Das Heft gibt es seit 1911 und dient als Informations- und Werbeblatt für den Tourismus, anfangs erscheint sogar eine American Travellers‘ Edition mit den attraktivsten Reisezielen. Mit Kriegsbeginn ändert sich alles. Castelle ersetzt die bunt zusammengewürfelten Reportagen über das schöne Rheinland, die schwäbische Alb oder deutsche Weinsorten durch patriotische Kriegsberichterstattung und deutet in erbaulichen Leitartikeln das Kriegsgeschehen: „Weltgeschichte – Weltgericht!“ „Deutsche Frauen – deutsche Treue!“
Castelle versteht sich als Schriftsteller und Künstler. Zum Kaisergeburtstag am 17. Januar 1915 widmet er dem Jubilar ein Gedicht: „Du stehst im Sturme wilder Ungewitter:/ Dein deutscher Friede ist in Bann und Acht./ Stehst still und stumm, ob Splitter auch um Splitter/ Der kriegentbrannten Menschheit Dich umkracht.“ „Das Weltall wankt in den urew’gen Gründen,/ Das Weltmeer glüht und schäumt von Menschenblut – / Doch Du stehst über all den Donnerschlünden/ In Deines Volkes, Deines Heeres Hut“. Mit seinen nationalistischen Texten qualifiziert sich Castelle für das Amt des Presseaufsehers, das er ab Anfang 1916 beim Armee-Oberkommando in Münster innehat.
Parallel tritt Castelle gerne auf Vortragsreisen auf, weihevolles Herrscherlob und Festreden liegen ihm. Er kommt viel herum und pflegt Kontakte zu den Leuten, die seinen feierlich-pathetischen Ton zu schätzen wissen. Und das sind nicht wenige.
Für Sonntag, den 9. Januar 1916, mitten im Krieg, lädt die Literarische Gesellschaft Münster, bei der Castelle Mitglied ist, per Zeitungsannonce zur Hermann-Löns-Gedenkfeier „abends 3¼ Uhr in der Aula des Städtischen Gymnasiums“ ein. „Mitwirkende: Der Berliner Lautenchor unter Leitung des Komponisten Max Battke: Dr. Friedr. Castelle.“ Löns selbst hatte am 15. und 16. April 1910 in Münster bei der Literarischen Gesellschaft aus seinen Werken gelesen, Castelle war mit ihm gut bekannt.
Nicht alles, entnehmen wir dem rezensierenden „Münsterischen Anzeiger“ vom 12. Januar, läuft bei der Gedenkfeier so wie geplant: „Infolge großer Zugverspätungen traf der Chor erst um 8 Uhr abends in Münster ein, daher auch die Verzögerung des Beginns der Feier. Außerdem beeinflußte der große Temperaturunterschied zwischen Stimmzimmer und Vortragssaal die Stimmung der Lauten.“ Verstimmtes Ploingploing auf der Klampfe, und dann auch Verspätung! Den „tiefsten Eindruck auf die Zuhörer“ hinterlassen ohnehin „die Vorträge von Herrn Dr. Castelle aus den Prosawerken von Hermann Löns“, die Texte durch „seine feine Hand“ ausgewählt. „Die vollendete, reife Vortragskunst des Herrn Dr. Castelle hielt die Hörer vom ersten bis zum letzten Wort in atemloser Spannung.“
Die Atemlosigkeit dringt bis ins ferne Köln, wo der „Kölnische Anzeiger“ am 16. Januar mitteilt, wie Castelle in Münster „die fast tausendköpfige Zuhörerschaft als Vortragskünstler von reicher technischer Ausdrucksfähigkeit und nachschöpferischer Innerlichkeit mit sich fortriß.“ Löns ganz tief innen nachgeschöpft, im Vortrag technisch perfekt. 1000 Leute, fortgerissen. Vergessen all die Missklänge und Verstimmungen. Das könnte eine ganz große Sache werden!
Castelle geht mit seinen Vorträgen während der Kriegsjahre auf Tour durch ganz Deutschland. Am 15. November 1917 gibt der „Paderborner Anzeiger“ eine Presseschau. Berlin, Düsseldorf, Danzig. Überall schwärmt man von Castelle. „Seine Stimme, die klangvoll und stark ist, beherrscht er in allen Lagen, wie der Meister des Orgelspiels die Register seines Instruments.“ Ein Mann wie eine Orgel. Klangvoll, stark, beherrscht. Wie gelingen ihm „stürmische Erfolge“? Castelle erzählt die Lönstexte „frei aus dem Gedächtnis so ursprünglich und lebendig, daß man den Eindruck hat, er gestalte im Augenblick des Erzählens die Geschichten aus eigenem dichterischen Erleben.“ Du meinst, Löns selbst plaudert da aus dem Nähkästchen, nur die besten Geschichten.
1919 sind Löns-Abende so fest etabiliert, dass Seminar-Oberlehrer Karl Hemprich aus Merseburg für die Broschürenreihe „Jugendabende. Darbietungen für unsere Jugend im Jugendheim“ eine didaktische Handreichung über „Hermann Löns im Jugendverein und auf Volksbildungsabenden“ schreiben kann. Zur Erbauung. Die vorgeschlagene Choreographie: „1. Herm. Löns als Dichter des Rosengartens. II. Als Dichter der Heimatschönheit und sinnigen Naturbetrachtung. III. Als Dichter des bäuerlichen Epos, des Wehrwolfs und IV. als Dichter der Heimatpflege und des Heimatschutzes“. Volkslieder, Heimatdichtung, wehrhafte Krieger, Naturschutz. Das alles passt zusammen? Erst, wenn man Hermann Löns drüberschreibt. Nicht vergessen, liebe Pädagogen: Die Musik ist der Schlüssel für die Botschaften der Heimatliebe, „in den Stunden, wo Liebe zur Löns’schen Muse erweckt werden soll, müssen unbedingt einige seiner Lieder gesungen werden.“
Der unbestrittende Star der professionellen Löns-Abende bleibt weiterhin Friedrich Castelle. Heute hier, morgen da. On Tour mit seinem Best-of-Löns-Programm, auswendig dahergesagt und nachgefühlt. Alternativ hat er auch andere Dichter im Gepäck. Fleißig pflegt Castelle, der gelernte Journalist, die Kontakte zu seinen Kollegen. Der „Schriftleitung der Casseler Allgemeinen Zeitung“ dankt er 1922 artig mit personalisierter Postkarte für die Besprechung eines Wilhelm-Busch-Abends. „Darf ich Sie bitten, dem Verfasser meinen herzlichen Dank übermitteln?“ Und macht Werbung: „Der nächste Abend wird Wilhelm Raabe gewidmet“. Gute Freunde muss man haben. Damit der nächste Abend gebucht wird. Und die Welle nicht abebbt. „Ergebenst Ihr Friedrich Castelle.“
Parallel zu den Dichterabenden baut Castelle im Printbereich seinen Ruf als Nachlassverwalter und Künder des Löns-Erbe aus. Der kommt nämlich am besten an. 1923 gibt Castelle die „gesammelten Werke“ des Heidedichters heraus, 1924 folgt der Prachtband „Hermann Löns und seine Heide“, in dem Bildmotive aus der Heide mit Beiträgen von Castelle und weiteren Löns-Deutern kombiniert sind. „Eine Wanderung in Bildern durch die Stätten seiner Werke.“ Löns selbst kommt nur noch mit einigen Texten vor, längst geht es um mehr: die Heide als Gefühl, als Sehnsuchtsort, wo Liebende sich treffen und der Jäger einsam sinnend umherstreift. Wo der Tod im Schützengraben unvergessen bleibt. Das Buch zum Löns-Abend, für zuhause zum Nachblättern und Mitwandern in Gedanken.
1926 ist es soweit, Castelle kann mit seiner Hermann-Löns-Show auf Rundfunksendertournee gehen, topmodern mit Flugzeug, rund um den Dichter-Geburtstag. „Im Flugzeug auf Rundreise“, alles planmäßig mit Lufthansa: „Friedrich Castelle, der ein begehrter Sprecher im deutschen Rundfunk geworden ist, macht zur Zeit aus Anlaß des 60. Geburtstages von Hermann Löns eine Vortragsreise, die ihn über die Sender Königsberg, Hamburg, Münster, Frankfurt, Breslau führt. Er legt die ganze Reise in den planmäßigen Flugzeugen der Lufthansa zurück. In Münster spricht Castelle Mittwoch, 25. August, Dichtungen von Hermann Löns“ (Wittener Volkszeitung am 23.08.1926).
Die Show vom 25. August 1926 aus dem Senderaum Münster ist musikalisch untermalt, noch nicht von Blume. Castelles radio voice, weich und sympathisch, steht im Mittelpunkt der Zeitungsberichterstattung. Das Liedersingen kommt am Rande vor. Ein anderer Löns-Sänger hat den Zuschlag bekommen, reichlich traurig, langsam, hundertfach vertont: „Am Löns-Abend gedachte Friedrich Castelle des Sechzigjährigen, indem er mit seiner weichen, sympathischen Stimme aus seinen Werken vorlas; es waren Stunden stiller Freude mit dem Frühverstorbenen. Dazwischen sang Paul Schröder, Hattingen, reichlich traurig und langsam einige von den hundertfach vertonten Löns-Liedern“ (Rheinische Volkswacht 31.08.1926).
Was dem Vortragsreisenden Castelle fehlt, allen Flugreisen zum Trotz, ist die Festanstellung. Er ist weiterhin Zeitschriftenredakteur, auch Dozent akademischer Kurse in Düsseldorf. Das allein ernährt einen Mann aber nicht, deswegen die vielen Löns-Abende und das Klinkenputzen bei Zeitungsschriftleitungen.
Anfang 1927 könnte es endlich soweit sein. Castelle soll hauptamtlicher Dozent im Freihochschulwesen zu Düsseldorf werden. Aber seine Berufung scheitert im März 1927 überraschend im Stadtrat, vor allem die Sozialdemokraten lehnen ihn wegen seiner Tätigkeit für das Armeeoberkommando in Münster während des Krieges ab. Seine Unterstützer finden dann doch noch etwas für ihn: Castelle wird Leiter der seit 1926 bestehenden Sendestelle Düsseldorf der WERAG.
Löns-Gedächtnis im Rundfunk: Blume und Castelle als Team
Am 29. August 1927, zum Löns-Geburtstag, richtet Castelle wieder einen Gedenkabend aus. Endlich arbeitet er Hand in Hand mit Blume. Der beste Lönsdeuter und Festredner mit dem besten Lönssänger und Lautenspieler. Gute Freunde muss man haben. An Blume führt kein Weg mehr vorbei. Er hat sich früh einen Namen als Radiosänger gemacht, schon 1925 das erste Mal vor Mikrofon geschrammelt. Und bei seinem Rundfunkkonzert neulich im März 1927 hat er mit dem „Geheimnis“ gepunktet. Da können wir keinen x-beliebigen Sänger mehr buchen.
Diesmal läuft alles rund. Die Störteufel sind vertrieben, die Kristall-Detektoren der Rundfunkhörer geputzt. Die Feier kann beginnen. Bei der Songauswahl wird das vielgesungene „Das Geheimnis“ prominent an erster Stelle platziert. Und was für ein Publikum dank Langenberg! Rheinland, Westfalen, Deutschland, Übersee. Alles auf der Mittelwelle.
Rundfunk, Montag 29. August
20.30—22.15 Uhr: Düsseldorf (für La, Mü, Do): Gedächtnisfeier für Hermann Löns. Mitwirkende: Karl Blume (mit eigenen Löns=Liedern zur Laute), Dr. Friedrich Castelle (Ansprache und Rezitationen).
Wittener Volkszeitung 29.08.1927, S. 5
- 1. Eine kleine Geburtstagsrede (Friedrich Castelle).
- 2. Lieder zur Laute: a) Das Geheimnis; b) Der Tauber (Karl Blume).
- 3. Rezitation: Doris (Aus den „Häusern vom Ohlenhof“), (Friedrich Castelle).
- 4. Lieder zur Laute: a) Das Irrlicht; b) Schäferlied (Karl Blume)
- 5. Rezitation: Der Schwedensturm (Aus dem „Werwolf“), (Karl Blume)
- 6. Lautensolo: Auf Feldwache (Karl Blume).
- 7. Rezitation: Hausfriedensbruch (Aus „Mümmelmann“), (Friedrich Castelle).
- 8. Lieder zur Laute: a) Der Kuckuck und der Piedewitt; b) Das Heckenkind (Karl Blume).
- 9. Rezitation: Hahnenfieber (Aus „Kraut und Lot“), (Friedrich Castelle).
- 10. Lautensolo: Der Grenadier (Karl Blume).
Eine ziemlich steile Karriere für Blume, bedenkt man, dass Castelle früher lieber Lautenchöre aus Berlin per Bahn herbei organisiert und seriöse Sänger für die musikalische Untermalung engagiert.
Jetzt ist Blume ein Star, das „Geheimnis“ ein Hit, vielgesungen, allseits bekannt. Castelle, wenn überhaupt, nur die Nummer 2. Oder? So einfach ist das nicht.
Löns-Gedenksteine: Politik und Militarismus
Es gibt noch einen anderen Grund dafür, dass Blume 1927 so viel Erfolg mit seinen Löns-Liedern hat. Wie bei den literarisch-besinnlichen Löns-Abende von Friedrich Castelle geht es auch hier um Nationalbewusstsein und Militarismus.
Überall im Land werden fleißig Löns-Gedenksteine errichtet, meist von Jägerverbände, immer in einer Umgebung, die zumindest Wald, am besten aber Heide als Kulisse bietet. Klar, Löns war Jäger und liebte die Natur. Aber da ist ja auch noch die Sache mit den erbarmlos mordenden Wehrwölfen. Und Naturpflege ist ja auch immer patriotische Heimatliebe. Das ganze kommt ziemlich militärisch-nationalistisch daher.
Der erste Löns-Gedenkstein, ein Findling mit Inschrift, wird am 26. September 1919 anlässlich seines 5. Todestags in Soltau eingeweiht. Zwei Jahre später, auf dem Wietzer Berg in der Südheide, gibt es ein deutlich pompöseres Bauwerk. Wieder ein wuchtiger Steinklotz, diesmal getragen von einem kräftigen Mauerwerk. Darin eingelassen eine Löns-Plakette, die den Dichter im Jägerornat zeigt.
Löns-Gedenksteine dienen als Anlass für nationale Feierstunden. Am 18. September 1926 ist es auch in Solingen soweit. Der „Allgemeine Deutsche Jagdschutz-Verein“ enthüllt ein wuchtiges Denkmal im Wald, natürlich mit Plakette, gebaut mit Unterstützung örtlicher Betriebe und Künstler. Ehren will der Verein den „Jäger-Dichter Hermann Löns“, „zugleich auch seine im Weltkrieg gefallenen Mitglieder.“ Und, so der Reporter vom „Solinger Tageblatt“, „noch ein Drittes war symbolisch für diese Weihestunde: die Liebe zur Heimat und zum Vaterland, die nicht in überschwänglichen Worten kam, die aber doch jeder der zahlreichen Festteilnehmer und Gäste deutlich heraus fühlte.“
Sind wir erstmal beim patriotischen Fühlen, ist auch das sehnsuchtsvolles Hoffen nicht mehr weit, auf den nationalen Wiederaufstieg, da sind sich alle einig. Angeblich liegt das an der „Spätsommersonne“, so „als sollten diese Strahlen des nun sinkenden Tagesgestirns die Hoffnung verstärken, auf den endlichen Wiederaufstieg, nach dem wir uns alle sehnen.“
Im Gedenken an Löns, so wird deutlich, kommt eine kriegstraumatisierte Gesellschaft zu sich selbst. Die Erinnerung an die gefallenen Freunde und Kameraden. Die Begeisterung für die heimische Natur. Erleichterung über das Ende der Ruhrbesetzung. Der Wunsch nach einer wirtschaftlich und militärisch starken Nation. Dafür braucht es Typen. Jäger in Uniform, die nicht viel Worte machen. Frauen, die davon schwer beeindruckt sind. Und Lieder, in denen all die unausgesprochenen Gefühle besungen werden.
Das Abendprogramm in Solingen wird nach dem Muster der Löns-Abende gestaltet, viele Festreden, musikalisch gerahmt von Männergesangsverein, Orchester – und Lautenspieler Blume. 1000 Leute sind da!
In dem mit Tannengrün und vielen Jagdtrophäen herrlich geschmückten großen Saal des Volksgartens fand abends eine von etwa 1000 Personen besuchte Hermann Löns-Feier statt, bei welcher der M.G.V. „Ossian“, Lautensänger Karl Blume und das Volksgarten-Orchester mitwirkten. Blume, der im Felde (1915) zuerst den Löns’schen Rosengarten vertonte, trug aus dessen Schatz den „Tauber“, das „Geheimnis“, das „Tanzlied“ und die „Grenadiere“ vor. Später brachte er noch einige lustige Lieder und erntete mit seinen Darbietungen stärksten Beifall.
Solinger Tageblatt 17.09.1926, S. 13.
„Lustige Lieder“. Von wegen. Ganz so harmlos ist das nicht. Na gut: Rendevous zu zweit im weichen Heidemoos („Geheimnis“). Aber auch: Mit Trommeln und Pfeifen in den Krieg, ein letzter Gruß an die Liebste am Fenster („Grenadiere“). Und in Solingen im Publikum: Jäger, bewaffnet in Uniform, Trophäen an den Saalwänden. Machen wir uns nichts vor: Die Löns-Lieder stehen mindestens genauso für tief gefühlte Vaterlandsliebe und Nationalismus wie für Liebe unter grünen Tannen. Das muss man aushalten können.
Blume kann das. So neu ist die Verbindung von leichter Unterhaltung und ernster politischer Botschaft ja auch gar nicht. Sie begleitet ihn, seit er als Löns-Sänger auftritt. Löns-Abend oder Weihestunde am Gedenkstein: Löns ist nicht einfach nur Dichter, sondern Kultfigur, larger than life. Ein Heimatliebhaber, der für sein Vaterland im Krieg gefallen ist. Ein treuer Kamerad, ein echter deutscher Soldat. Ziemlich viel Säbelrasseln, findest du nicht? Ach was! Welcher Musikant würde da nicht freudig aufspielen? Bei dem Beifall!
Blume, seine Laute und die Löns-Lieder liefern den Soundtrack für ein neues, einheitsstiftendes Heimatgefühl. So geht Erfolg, jetzt endlich auch im Rundfunk.
Zum Inhaltsverzeichnis.
Zu Kapitel 7: Die Castelle-Blume-Löns-Show: Mit dem Film aus der Provinz bis nach Berlin.
Abbildungsverzeichnis
Castelle, Friedrich. Brief von Friedrich Castelle an Casseler Allgemeine Zeitung, Kassel. Postkarte und Lichtbild. Bochum 07.11.1922. Universitätsbibliothek Kassel, Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel. Link zum Brief. Creative Commons 4.0.
- Postkartentext. Link zur Universitätsbibliothek Kassel.
- Lichtbild. Link zur Universitätsbibliothek Kassel.
Werbeprospekt: AEG Rundfunkgeräte AEG Neutrodyn, AEG Detektorempfänger Modell D, AEG Zweiröhren-Niederfrequenz-Verstärker Modell Dv, sowie AEG Lautsprecher und Radio-Voltmeter, Deutsches Technikmuseum. Creative Commons 4.0. Link zur Deutschen Digitalen Bibliothek.
Der Lönsstein auf dem Wietzer Berg, Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg. Kollodiumpapier; Schwarzweißpositivverfahren. Höhe: 8,9 cm; Breite: 11,8 cm. Fotografiert von Johann Hamann. Link zur Deutschen Digitalen Bibliothek. Public Domain 1.0.
Verwendete Literatur
Recherche im Deutschen Zeitungsportal und bei zeitpunkt.nrw.
- Westfälischer Merkur 12.04.1910, S. 4: Löns in Münster
- Münsterischer Anzeiger 06.01.1916, S. 4: Anzeige zur Hermann-Löns-Gedenkfeier
- Münsterischer Anzeiger 12.01.1916, S. 2: Rezension zur Hermann-Löns-Gedenkfeier
- Kölnische Zeitung 20.01.1916, S. 7: Bericht zur Hermann-Löns-Gedenkfeier
- Paderborner Anzeiger 15.11.1917, S. 3: Presseschau zu Castelles Löns-Abenden
- Dortmunder Zeitung 24.09.1925, S. 10: Ankündigung eines Rundfunkkonzerts von Karl Blume
- Wittener Volkszeitung 23.08.1926, S. 3: „Im Flugzeug auf Rundreise“ über Friedrich Castelle
- Rheinische Volkswacht 31.08.1926, S. 12: Nachbericht über den Lönsabend mit Friedrich Castelle aus dem Senderaum Münster
- Solinger Tageblatt 17.09.1926, S. 13: „Die Enthüllung des Solinger Löns-Denkmals“
- Düsseldorfer Stadt-Anzeiger (15.01.1927): Berufung Friedrich Castelles geplant
- Düsseldorfer Stadt-Anzeiger (16.3.1927): Berufung Friedrich Castelles abgelehnt
- Echo der Gegenwart, 19.03.1927, S. 13: Bericht eines Rundfunkkonzerts von Karl Blume
- Wittener Volkszeitung 29.08.1927, S. 5: Programm der Gedächtnisfeier für Hermann Löns mit Karl Blume und Friedrich Castelle
Deutschland. Organ für die deutschen Verkehrs-Interessen. Amtliche Zeitschrift des Bundes Deutscher Verkehrs-Vereine 2 (1911/1912). Sammelband mit der American Travellers‘ Edition 1911 im Anhang: Link zum Internet Archive.
Deutschland. Organ für die deutschen Verkehrs-Interessen. Amtliche Zeitschrift des Bundes Deutscher Verkehrs-Vereine 4 (1913). Friedrich Castelle wird erstmals als Schriftleiter genannt. Link zum Internet Archive.
Castelle, Friedrich: Dem Kaiser! Zum 27. Januar 1915. In: Deutschland. Zeitschrift für Heimatkunde und Heimatliebe. Organ für die deutschen Verkehrs-Interessen 6 (1915), S. 4. Link zum Internet Archive.
Dupke, Thomas: Hermann Löns in Westfalen. Die Löns-Rezeption dargestellt am Beispiel von Friedrich Castelle, Wilhelm Deimann und Josef Bergenthal. In: Literatur in Westfalen. Beiträge zur Forschung 3 (1995), S. 45-66.
Friedrich Castelle. Link zum Lexikon Westfälischer Autorinnen und Autoren.
Die im Lexikon zu lesende Angabe, Friedrich Castelle sei 1921 Leiter der Sendestelle Düsseldorf gewesen, ist falsch. Sie ist ungeprüft aus einem Zeitungsartikel zu Castelles 60. Geburtstag übernommen, wo 1921 gedruckt ist, aber ganz offensichtlich 1927 gemeint ist (Münsterischer Anzeiger 30. April 1939, S. 2). Link zum Deutschen Zeitungsportal.
Straßennamen in Münster: Castelleweg. Link zur Stadt Münster.
Steffen Stadthaus: Friedrich Castelle. Ein politischer Heimatschriftsteller. Matthias Frese (ed.): Fragwürdige Ehrungen?! Straßennamen als Instrument von Geschichtspolitik und Erinnerungskultur, Münster: Ardey 2012, S. 233-249.
Birgit Bernard: Der Westdeutsche Rundfunk (1924-1942/1945). Link zum LVR.
Hemprich, Karl: Hermann Löns im Jugendverein und auf Volksbildungsabenden, Langensalza: J. Beltz 1919. Link zur Staatsbibliothek Berlin. Public Domain Mark 1.0.
Die politischen Ordonnanzen der Interalliierten Rheinlandkommission und ihre Anwendung in den Jahren 1920 – 1924. Eine Sammlung von Belegstücken, Berlin: Heymann 1925. Link zur Universität Düsseldorf.